Zwei Holzstege führen durch das ehemalige Zwangsarbeiterlager in Neuaubing. Einige Plätze sind mit organisch geschwungenen Dächern überspannt. Diese Elemente sind die markantesten des Siegerentwurfs für den Erinnerungsort Ehrenbürgstraße 9. Alles andere wirkt, bewusst so konzipiert, erst bei näherer Betrachtung: Der Charme der Siegerarbeit ist das Dezente, intuitiv Erlebbare, aber umso Nachdrücklichere.
"Die große Kunst war, minimalinvasiv die höchstmögliche Wirkung zu erzielen", sagt Christine Peter vom Architekturbüro SPP Sturm Peter + Partner. "Wir haben versucht, ganz, ganz behutsam die Zeitstränge Zwangsarbeiterlager und Kunst- und Kulturoase übereinanderzulegen." Gemeinsam mit den TRR Landschaftsarchitekten Ritz und Ließmann und dem Szenographiebüro Müller-Rieger haben die Münchner unter elf Wettbewerbern den ersten Preis des Realisierungswettbewerbs zur denkmal- und naturschutzgerechten Sanierung des Areals gewonnen und sind jetzt mit der Planung beauftragt.
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Das versteckte Gelände an der Grenze zum neu entstehenden Stadtteil Freiham beherbergt eine der nur zwei in Deutschland vollständig erhaltenen Anlagen der einst mehr als 30 000 NS-Zwangsarbeiterlager während des Zweiten Weltkriegs, die andere befindet sich in Berlin-Schöneweide. 13 Millionen ausländische Arbeitskräfte verschleppten die Nationalsozialisten mit Gewalt aus ihren Heimatorten, allein in München waren zwischen 150 000 und 200 000 zivile Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene sowie KZ-Häftlinge in mehr als 550 Lagern oder Sammelunterkünften untergebracht.
Von 1939 bis 1945 errichtete das nationalsozialistische Regime im Raum München mehr als 400 Zwangsarbeiterlager. Frauen und Männer unterschiedlicher Nationalitäten wurden in diesen Lagern interniert und zur Unterstützung und Aufrechterhaltung der Kriegswirtschaft gezwungen.
Die historisch bedeutsame Barackensiedlung an der Ehrenbürgstraße 9 mit ihren acht Gebäuden um einen großen, inzwischen bewachsenen Hof ist aber auch deshalb etwas Besonderes, weil sie sich im Laufe der Zeit gewandelt hat. Weil sie zu einem kreativen Ort für Künstler und Handwerker wurde, zu einem Freiraum für unabhängiges, selbstbestimmtes Arbeiten. Die Erinnerung an die Vergangenheit haben die Kunst- und Kulturschaffenden dabei stets hochgehalten. Diese beiden Ebenen zu verknüpfen, eine einander befruchtende Koexistenz von Geschichte und Gegenwart zu ermöglichen, war die komplexe Aufgabe des Wettbewerbs.
Die parallel verlaufenden Holzstege, von den Architekten um Christine Peter "Strahlen" genannt, symbolisieren diese beiden Zeitabschnitte. Der westliche Strahl steht unter dem Zeichen der Erinnerung und des Gedenkens an das geschichtliche Erbe. Er verbindet die Baracken 2 und 5, die als musealer Teil zu Außenstellen des NS-Dokuzentrums werden. Dort sollen Ausstellungen zu sehen sein.
Der Vorplatz ist teilweise überdacht und soll Besuchergruppen einen geschützten Sammelbereich bieten. Besonders auch der Belag dieses Platzes, der aus geschalten Betonplatten besteht: Er erinnert an historische Bahnschwellen. Spaziergänger und Radfahrer, die auf der öffentlichen Fuß- und Radwegeverbindung zwischen Freiham und Neuaubing unmittelbar am Erinnerungsort vorbeikommen, dürften den Unterschied des Wegs an dieser Stelle als sanften Hinweis auf die Gedenkstätte wahrnehmen.
In Richtung Innenhof der Anlage dann die Idee einer, wie die Entwurfsverfasser es nennen, "skulpturalen Intervention": Unmittelbar am Steg soll ein in den Boden eingelassenes, verfremdetes Modell die Struktur des Lagers zeigen, wie es zur NS-Zeit aussah. In Miniaturausgabe, "wie wenn man mit dem Flugzeug darüber fliegen würde", erläutert Peter. Das Ganze sei für die Besucher "als Überraschungsmoment gedacht".
Zwar ist geplant, das derzeit noch fast dornröschenartig wuchernde Unterholz in der Hofmitte so zu roden, dass lediglich einige Bäume stehen bleiben. Mit dem Ziel, Sichtachsen und Durchblicke zwischen den Baracken entstehen zu lassen. Aber ganz vermeiden lässt sich auch damit nicht, dass die verbleibende Vegetation die nackte, kahle Funktionalität des ehemaligen Lagers überschreibt. Beim Betrachter soll diese Skulptur daher eine "Doppelsicht" auslösen, ein Blick "hinunter in den historischen Abgrund und hinauf in die kreative Wiederbelebung" des Areals.
Die Künstler und Handwerker auf dem Gelände sind sehr angetan von dem Siegerentwurf
Und die Funktion des zweiten, östlichen Strahls? Er ist als "Kulturband" konzipiert und lädt zu spontanen Begegnungen mit den Künstlern ein. Belebt wird dieser Steg durch mehrere semi-mobile Unterstände, die den Kunstschaffenden als Arbeitsräume dienen oder auch für Ausstellungen genutzt werden können. "Eine schöne Lösung", wie Bildhauer Peter Heesch als Vorsitzender der Freien Ateliers und Werkstätten Ehrenbürgstraße lobt.
Überhaupt sind die Künstler und Handwerker auf dem Gelände, die im Vorfeld befürchteten, die Sanierung könnte ihr Idyll zerstören, sehr angetan von dem ausgewählten Siegerentwurf. Dass sich diese "Arbeitsdecks" entlang des Stegs mit zwei von Pflanzen befreiten Einmannbunkern abwechseln, in denen zu Lagerzeiten das Wachpersonal bei Luftangriffen verschwand, während die Zwangsarbeiter ungeschützt blieben, schärft auch aus Künstlersicht die Spannung zwischen dem vormaligen Zwang des Appellplatzes und der heute vorhandenen, kreativen Freiheit.
Profitieren von diesem Entwurf wird außerdem die benachbarte Kinder- und Jugendfarm Neuaubing. Nicht nur, dass der "Dschungel", ein Abenteuerspielplatz inmitten vieler Bäume, noch verdichtet wird. Die von der Farm nach der Sanierung wieder nutzbare Baracke 8 bekommt auch eine zusätzliche Erschließungsachse im Norden. Ein "genialer Coup", findet Heesch. Dazu kommen regen- und sonnengeschützte Sitzinseln in einem als Forum angelegten Treffpunkt und Aufenthaltsort, mit Möglichkeiten für Präsentationen, Filmvorführungen und Konzerte. Open-Air-Events mit bis zu 250 Besuchern sollen hier stattfinden können.
Ein aus Sicht des Preisgerichts "interessanter, aber noch zu diskutierender Vorschlag zur Orientierung" sind Infostelen, die als "offene Türen" gedacht sind und auf markante Besonderheiten hinweisen. Auch die Ausstellungsgestaltung bedarf nach Meinung der Wettbewerbsjury "noch weiterer Planungen". Im Fokus stehen nun zunächst die als NS-Dokuzentrum-Dependance gedachten Baracken 2 und 5. Tatsächlich umgebaut wird der Erinnerungsort laut der Stadtsanierung frühestens 2024. Eine Ausstellung aller Wettbewerbsergebnisse ist für Mitte Mai geplant.