Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: München natürlich:Familienstress in der Biberburg

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Die Nachwuchsnager müssen sich im Frühjahr ein neues Zuhause suchen - doch in München herrscht Wohnungsnot.

Von Thomas Anlauf

Ein junger Biber hat es auch nicht leicht. Erst muss er zwei Jahre lang Tag und Nacht auf engstem Raum mit Eltern und den Geschwistern in der Biberburg hausen - und dann schmeißen ihn die Alten einfach raus. "Ein Hotel Mama gibt's bei den Bibern nicht", sagt Martin Hänsel. Der stellvertretende Geschäftsführer beim Bund Naturschutz lebt in direkter Nachbarschaft der Würm-Biber am Pasinger Stadtpark und weiß genau, wie die Nager ticken. Und gerade jetzt im Frühling gibt es dort Familienstress. Denn im Mai kommen die nächsten Jungen zur Welt, dann wird es zu eng in der Biberburg und der zweijährige Nachwuchs muss sich sein eigenes Revier suchen. Doch das ist gar nicht so einfach. Denn in München herrscht für Biber akute Wohnungsnot.

Das größte Nagetier Europas lebt gern in der Stadt. Der Biber ist nicht sonderlich scheu. Man kann ihn in der Dämmerung gut beobachten, wenn man ihm nicht zu dicht auf den Pelz rückt. An der Würm kommen abends regelmäßig Pasinger im Stadtpark vorbei, um den Bibern beim Fressen oder Schwimmen zuzusehen. Auch die wohl bekanntesten Münchner Biber an der Museumsinsel in der Isar sind gut zu beobachten. Die stören sich auch kaum daran, dass an warmen Sommertagen Hunderte Münchner in der Nähe in der Sonne sitzen.

Die Liebe des Bibers zu München hat aber auch seine Schattenseite: Denn eigentlich sind alle brauchbaren Reviere schon besetzt, vor allem an der Würm: "Die ist komplett durchbesiedelt", sagt Hänsel. Das bedeutet allerdings nicht, dass dort die Biber Burg an Burg wohnen. Jede Familie hält einen Abstand von etwa zwei bis drei Kilometern. So viel Distanz muss sein, schließlich gibt es an Würm und Isar nicht unbegrenzt Nahrung. Und von einem massenhaften Auftreten der Biber kann ohnehin keine Rede sein. Martin Hänsel weiß, dass in München insgesamt etwa 15 Familien leben, also zwischen 60 und 100 Biber. Mehr haben hier auch gar nicht Platz.

Die zweijährigen Jungbiber müssen sich nun einen Platz suchen, doch das kann lebensgefährlich werden. Denn Alteingesessene verteidigen ihr Revier mit ihren scharfen Zähnen, nicht selten sterben junge Biber an den Bisswunden. Um den Alten zu entgehen, müssen sie oft weite Strecken durch die Stadt oder übers Land wandern. Dort werden sie dann häufig von Autos überfahren. "Die Überlebenschancen sind nicht so riesig", sagt Hänsel. Das beginnt sogar schon in der Kinderstube. Manche ertrinken bei den ersten Versuchen, aus der Biberburg zu tauchen. Andere überleben sogar die Nahrungsumstellung von der fetthaltigen Muttermilch auf Grünzeug nicht. Um den Fortbestand der Familie zu sichern, bringt deshalb ein Biberweibchen jährlich zwei bis vier Junge zur Welt.

Sorgen um die Population in Bayern müssen sich Naturschützer wie Martin Hänsel mittlerweile keine mehr machen. Es dürften landesweit etwa 22 000 Biber sein, die sich in Flüssen, aber auch in Seen ansiedeln. Erst in den Sechzigerjahren gab es überhaupt wieder Biber, sie waren Mitte des 19. Jahrhunderts ausgerottet worden - wegen ihres dichten Fells und des Fleisches, das auch in der Fastenzeit gegessen wurde, weil die Kirche Biber kurzerhand zu Fischen erklärte. Und nicht zuletzt wegen des Bibergeils, einem Drüsensekret, das als mittelalterliches Viagra und überhaupt als Wundermittel galt.

Am 4. November 1966 erhielt der spätere Vorsitzende des Bundes Naturschutz Hubert Weinzierl die Nachricht aus dem Frankfurter Zoo: "Biber per Expresszug um 16 Uhr 12 abgegangen." Weinzierl hatte gemeinsam mit Bernhard Grzimek, der damals den Frankfurter Zoo leitete, das Projekt "Wiedereinbürgerung des Bibers in Bayern" gestartet. Die ersten importierten Biber wurden unter anderem an der Isarmündung und am Ammersee angesiedelt. Seit den Neunzigerjahren leben Biber auch wieder in München. Hier werden sie wohl auch bleiben, allein schon wegen des berühmten Isarflimmerns.

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Quelle:
SZ vom 17.04.2020
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