Süddeutsche Zeitung

Holocaust-Gedenktag:Stadt München erinnert mit Web-App an NS-Opfer

Die bisher mehr als 110 Erinnerungszeichen werden durch einen elektronischen Wegweiser ergänzt. Zwei Passagiere des Flüchtlingsschiffes "St. Louis" werden am 27. Januar gewürdigt - auch sie überlebten die NS-Herrschaft nicht.

Von Martin Bernstein

Das rettende Ufer war zum Greifen nah - doch der letzte Schritt in die Freiheit und damit zum Überleben blieb Flora und Siegfried Wilmersdörfer verwehrt. Die St. Louis, das Schiff, mit dem das jüdische Münchner Ehepaar nach Kuba fliehen wollte, durfte am 27. Mai 1939 nicht in den Hafen von Havanna einlaufen. Auch die USA und Kanada lehnten die Aufnahme der mehr als 900 jüdischen Flüchtlinge an Bord ab. Nach wochenlanger Irrfahrt legte das Passagierschiff im belgischen Antwerpen an. Siegfried Wilmersdörfer erlag 1941 in Brüssel einem Herzinfarkt. Flora Wilmersdörfer wurde am 31. Juli 1943 von Mechelen nach Auschwitz deportiert und dort vermutlich am 2. August 1943 ermordet.

Mit einer neuen App erinnert die Stadt an das Schicksal des Ehepaars und weiterer 110 Münchner NS-Opfer, die bislang an ihrem letzten Wohnort in der Stadt mit Stelen oder Wandplaketten geehrt worden sind. Die App wird am Donnerstag freigeschaltet - dem internationalen Holocaust-Gedenktag.

Die Web-App ist nach Angaben des Kulturreferats mit einer Routenfunktion ausgestattet, die User zu den Standorten der Erinnerungszeichen in der ganzen Stadt führt. Unter anderem in die Haimhauserstraße in Schwabing. Im Haus mit der Nummer 1 - damals Nummer 19 - wohnte von 1927 bis 1935 das Ehepaar Wilmersdörfer. Flora Wilmersdörfer wurde 1885 in Giebelstadt geboren. Ihr 1879 in Regensburg geborener Ehemann war seit 1921 Teilhaber des Münchner Geschäfts seines Onkels, der "Manufakturwaren-Großhandlung Max Wilmersdörfer" in der Senefelderstraße in der Ludwigsvorstadt.

1938 nahmen die Nationalsozialisten ihnen die Firma weg. Flora und Siegfried Wilmersdörfer planten auszuwandern. Doch die Emigration scheiterte trotz gültiger Visa. Das Ehepaar überlebte die NS-Herrschaft nicht. Mit seiner Weigerung, seine Passagiere direkt zurück nach Deutschland zu bringen, rettete Kapitän Gustav Schröder jedoch knapp 600 der ihm anvertrauten Menschen das Leben. Vom Staat Israel wurde er 1993 in der Gedenkstätte Yad Vashem posthum in den Kreis der "Gerechten unter den Völkern" aufgenommen. 57 der St. Louis-Passagiere kamen aus Bayern, sieben von ihnen aus München.

Bürgermeisterin Katrin Habenschaden und Ellen Presser von der Israelitischen Kultusgemeinde werden die Erinnerungszeichen für Flora und Siegfried Wilmersdörfer am Donnerstag in einer nicht-öffentlichen Veranstaltung einweihen. "Die Erinnerungszeichen machen uns im Stadtraum aufmerksam auf Menschen, die im Nationalsozialismus aus ihrem Leben gerissen wurden", sagt Habenschaden.

Kulturreferent Anton Biebl betont laut einer Mitteilung seines Hauses: "Die Lebensgeschichten, die in der Webapp erzählt werden, haben eines gemeinsam: ein verbrecherisches Ende im Nationalsozialismus." Denjenigen, die in den Tod getrieben worden seien, wolle man "wieder einen Platz in unserer Mitte geben". Diese Münchnerinnen und Münchner seien "mitten in der Stadtgesellschaft verwurzelt" gewesen bis zu ihrer Verschleppung und Ermordung. "Mit den Erinnerungszeichen und der Webapp erinnern wir an sie und daran, dass die Menschenwürde unantastbar ist."

Die Web-App wird am 27. Januar unter https://map.erinnerungszeichen.de freigeschaltet. Bis dahin können wegen der technischen Umstellung die Lebensgeschichten der Personen, für die es bereits Erinnerungszeichen gibt, kurzfristig nicht abgerufen werden. Die Web-App kann über jeden Internetbrowser sowohl auf dem Computer als auch auf mobilen Endgeräten wie dem Handy angesteuert werden.

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