An diesem Ort bekommen sie ein Gesicht, zumindest ein paar von ihnen, und von manchen erfährt man auf den Fotos auch den Namen. Carmel, Joanna, Angel, Anas, Youssef, Kareem, Heba, Hindi, Mervat, Ahmed. Kinder, die nicht mehr leben, getötet in Gaza, im Krieg, den Israel seit dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 führt. Unter den mehr als 40 000 Toten sind viele Tausend Kinder.
In München sind ihre Bilder vor der Uni zu sehen, beim Protestcamp propalästinensischer Studierender und ihrer Mitstreiter. Es ist ein improvisierter Ort der Trauer, an dem sich in die Trauer immer wieder Enttäuschung, Wut und Hass mischen. Am Samstag ist das zu erleben, als vom Professor-Huber-Platz aus eine Demonstration startet. Die Camp-Organisatoren haben dazu Palästina-Aktivisten aus ganz Deutschland eingeladen. 200 Teilnehmende waren bei der Stadt angemeldet, gekommen sind etwa 1500.
Es wirkt wie ein großes Wiedersehen der Palästina-Community. In einem der Zelte werden Utensilien gegen Spenden angeboten, die man in fröhlichem Kontext als „Merchandise“ bezeichnen würde. Eine Palästina-Flagge gibt es gegen zehn Euro Spende, eine Kufija, das „Palästinensertuch“, für 15 Euro. Es gibt Haarspangen im Melonen-Design und als silberfarbenen Halskettenanhänger den Umriss des Landes, das die einen Israel, die anderen Palästina nennen. Und es gibt Getränkedosen einer schwedischen Firma, „Palestine Cola“ und „Gaza Cola“.
Die Organisatoren der Demo wollen nicht mit der SZ über ihre Trauer und ihre Forderungen sprechen, sie verweisen auf ein schriftliches Statement. In der propalästinensischen Community ist die Abneigung gegen deutsche Medien ausgeprägt, viele fühlen sich falsch dargestellt, ungerecht behandelt, die Medien seien einseitig proisraelisch. So wird aber auch die Chance vergeben, Gefühle und Anliegen zu erklären.
„Wir haben eine Geschichte zu erzählen“, steht bei den Fotos der getöteten Kinder. Für die Camp-Macher sind es nicht allein zu betrauernde junge Menschen, da steht auch: „Märtyrer von Gaza“. Ein paar Meter weiter auf einem Transparent mit dem Foto des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die Worte: „Wanted for Genocide“, gesucht wegen Genozids.
Zunächst spricht eine junge Frau mit rotem Kopftuch, sie ist aufgewühlt. Die Toten in Gaza seien nicht nur eine Statistik, „es sind Menschen“. So viele Leichen gebe es, dass sie immer wieder in Kühlwagen gelagert werden müssten. Deutschland und hiesige Unis, auch die in München, trügen Mitschuld, weil sie Israel unterstützten. „Es fällt schwer, in Worte zu fassen, was wir fühlen.“ Sie ruft dazu auf, weiterhin „gegen das Unrecht zu kämpfen“. Und dann einer der Slogans der nächsten vier Stunden: „Freiheit für Palästina!“ Die Hamas, deren Überfall am 7. Oktober den aktuellen Krieg ausgelöst hat, spielt an diesem Tag keine Rolle. Weder wird die Terrororganisation hörbar unterstützt noch wird sie verurteilt.
Greta Thunberg schickt eine Sprachnachricht
Von der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg spielen sie eine Sprachnachricht ab. Thunberg engagiert sich für Palästina und ist deshalb vor allem in Deutschland umstritten. In ihrer kurzen Botschaft sagt sie, mit dem Engagement für Palästina sei man „auf der richtigen Seite der Geschichte“.
Der Demoweg führt durch die Maxvorstadt zum Wissenschaftsministerium und zur Technischen Universität. Immer wieder prangern Redner an, dass die Münchner Unis via Kooperation mit Israel dessen „Genozid“ unterstützten. Sehr emotionale, sehr harte Worte, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit erlauben sie.
Es ist vor allem ein junger Mann, der den Teilnehmenden immer wieder radikalen Parolen vorgibt. An der Spitze der Demo fährt er auf einem „Doge Ram“ mit, einem monströsen Pickup, der als Lautsprecherwagen dient. Würde man allein ihm zuhören, man würde wenig spüren von der Trauer über die Toten, stattdessen viel Wut und Hass auf Israel. „Zionisten sind Faschisten, Kindermörder und Rassisten.“ Wieder und wieder. So wird Feindschaft hörbar, die auch in Deutschland gewachsen ist.
Zu Beginn der Versammlung, noch vor der Uni, ruft der Mann am Mikro: „Ganz München hasst die Polizei.“ Warum das? Es bleibt doch zwischen Demonstrierenden und Polizei an diesem Tag völlig ruhig. Der Mann wirft der Polizei vor, dass sie gegen die Palästina-Community streng vorgehe, aber Israel-Unterstützer gewähren lasse. Diese veranstalten auf der anderen Seite der Ludwigstraße eine kleine Demo mit vielleicht 100 Menschen und einigen Flaggen mit dem Davidstern. Dort, ruft der Mann am Mikro, werde zur Auslöschung Palästinas aufgerufen.
Tatsächlich gibt es ein Plakat, auf dem sind die Worte „Hamas“ und „Hezbollah“, die in Libanon operierende Terrororganisation, durchgestrichen, daneben jeweils ein Datum, darunter: „Palästina next“. Soll das heißen, dass Israel als nächstes Palästina auslöschen solle? Fragt man bei der Israel-Demo, wird auf ein weiteres Wort unter „Palästina“ verwiesen: „spricht“. Und die Aussage sei: An den genannten Daten seien Hamas und Hisbollah in Deutschland verboten worden, dieses Verbot wolle man auch für „Palästina spricht“, einer radikal agierenden Gruppierung.
Nun wird diese Forderung auf der anderen Straßenseite wohl niemand unterstützen. Aber es ist ein großer Unterschied, ob das Verbot einer Gruppierung gefordert wird oder das Auslöschen eines Landes. Ein Missverständnis? Ja, und ein Ausdruck dessen, dass zwischen beiden Seiten des Konflikts viel Sprachlosigkeit ist, auch in München.
Auf der Palästina-Seite der Ludwigstraße steht zu Beginn der Demo eine ältere Frau, ein Anstecker weist sie als Mitglied der „Omas gegen Rechts“ aus. Sie ist rübergekommen und hält ein kleines Schild in den Händen: „Trauern wir gemeinsam.“ Der Appell bleibt ungehört in München, ein Jahr nach dem 7. Oktober.