Theater:Nadas Engel

Dietmar Höss

Nachdenklich und stets auf der Suche nach Wegen zur Verständigung zwischen den Kulturen: Dietmar Höss bei den Proben zu "Lost Wings".

(Foto: Mario Steigerwald)

Dietmar Höss inszeniert am Münchner Rationaltheater "Lost Wings". Ein Stück, das nicht nur die Kraft der Liebe für die Gesellschaft aufzeigt, sondern auch für eine funktionierende Integration

Von Stefanie Schwetz

Dietmar Höss ist Leiter des Schwabinger Rationaltheaters. Im September war dort die Uraufführung seines unter Pseudonym geschriebenen Stücks "Lost Wings" - eine Geschichte über die Liebe zwischen einer dunkelhäutigen Klofrau, die einer rassistischen Gewalttat zum Opfer fällt, und einem menschgewordenen Engel. Am 13., 14., 15. und 16. Oktober steht das Stück wieder auf dem Programm. Im Gespräch erklärt Höss, was "Lost Wings" mit der aktuellen Flüchtlingsdebatte zu tun hat.

SZ: Wie ist das Stück "Lost Wings" entstanden?

Dietmar Höss: Da gibt es drei Aspekte. Das Stück ist einmal von dem Artikel "Die Sklavin" der SZ-Autorin Karin Steinberger beeinflusst. Darin geht es um ein Mädchen, das im Alter von 14 Jahren von ihrem Vater verkauft, bei einer reichen Familie in Katar versklavt wurde und nun in Deutschland Zuflucht gefunden hat. Allerdings droht ihr die Abschiebung.

Welche Aspekte spielten noch eine Rolle?

Außerdem geht es um Talente. Ich erinnere mich an das Buch "Das Herz ist ein einsamer Jäger" von Carson McCullers. Da gibt es die Rolle des Mädchens Mike Kelly, das in sehr ärmlichen Verhältnissen lebt und ein unglaubliches musikalisches Talent bei sich feststellt. Trotzdem landet sie am Schluss im Walmart. Sie kann ihr Talent nicht ausleben.

Was hat das mit der Geschichte von "Lost Wings" zu tun?

Es gibt die Situation, in der der Engel Elvis die farbige Toilettenfrau Nada fragt: Hast du ein Talent, das ich gebrauchen könnte. Und sie sagt, sie habe sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, weil sie nicht weiß, ob sie das jemals ausnutzen kann. Und der dritte Aspekt beschreibt den Weg des Engels vom Perfekten zum Unperfekten, vom Göttlichen zum Menschlichen.

Welche Rolle spielt der Engel im Vergleich zu Nada?

Am Anfang die eines weißen, gebildeten, reichen Dandys. Er ist zuerst sogar rassistisch und spielt auf ihre Hautfarbe an. Ist meine Hautfarbe, fragt er das Publikum, besser als ihre? Als er erkennt, wie gut sie singt und wie schlecht seine Stimme ist, wird sie seine Lehrerin und damit beginnt ihre Liebesgeschichte. Und aus dieser Nummer kommt er nicht mehr raus, aus dem Gefühl der Liebe, das er vorher nicht kannte.

Was motiviert den Dandy, diesen Weg in die Unperfektion zu gehen?

Er will Gefühle haben, er will Freundschaft haben und er will sterblich sein. Er sagt: Unsterblichkeit ist kälter als der Tod. Und Nada entgegnet: Weißt du überhaupt, wovon du redest. Sie hat schließlich dafür gekämpft, dass sie hier in Deutschland sein darf, dass sie überleben kann. Das sind zwei komplett gegensätzliche Erfahrungswelten.

Wie sind die Schauspieler mit dem Stück umgegangen?

Das Stück ist ja eine Art Patchwork, das nicht nur von mir stammt. Das Drehbuch wurde während der Proben geschrieben. Das hat die Schauspieler erst irritiert. Aber nur so konnten wir überprüfen, ob die Szenen authentisch sind.

Wie überprüft man so etwas?

Für die Rolle der Nada haben wir die dunkelhäutige Olga Xavier gefunden. Sie hat in Dresden Jazzgesang studiert. Durch sie wird dem Mädchen aus dem Zeitungsartikel eine Persönlichkeit gegeben.

Welche Erfahrungen bringt Olga Xavier mit?

Was Olga in Dresden an Rassismus erlebt hat, ging so weit, dass sie nicht mehr dort wohnen konnte. Deswegen war eine gemeinsame Entwicklung des Stücks so wichtig. Wir hatten wahnsinnige Bedenken, zu dick aufzutragen. Aber Olga hat uns dann erklärt: Das geht bei uns in Dresden noch ganz anders zur Sache.

Was sagt uns "Lost Wings" über unsere Wirklichkeit?

Wir bewegen uns mit dem Stück auf sehr dünnem Eis. Auf der einen Seite müssen wir erzählen, was die Nada für ein Schicksal hat. Auf der anderen Seite ist unser Anliegen, dass man zum Schluss aus dem Stück rauskommt und sagt, die kann gut singen, so dass wir weg von ihrer Opferrolle kommen.

Und wie soll das im gesellschaftlichen Alltag gelingen?

Wir müssen auch all die Flüchtlinge aus der Schublade der Opfer rausnehmen und zwar so schnell wie möglich. Insofern ist dieses Stück ein politisches Stück. Was wir jetzt mit der Willkommenskultur tun, ist etwas sehr Schönes. Dieses Mitgefühl ist aber ein verletzliches Gefühl. Das kann man sehr schnell beschädigen, indem man sagt "Das Boot ist voll" oder "Wir können nicht mehr". Mir geht es darum, dass sich dieses Mitgefühl verändert in Sympathie, in Respekt und in eine Art Liebe. Und diese Gefühle sind definitiv nicht mehr angreifbar. Wenn Sie nämlich eine Freundschaft oder eine Liebe haben, dann spielt es für Sie überhaupt keine Rolle mehr, ob das Boot voll ist.

Wie groß muss die Liebe sein, um unsere Gesellschaft zu retten?

Ich glaube, das ist das Gefühl, das den Menschen ausmacht. Für die Liebe, das hat auch die Geschichte gezeigt, haben Menschen schon alles getan und ausgehalten.

Nennen Sie ein Beispiel.

Im Sport funktioniert das ja. Wenn jetzt ein Farbiger für den FC Bayern fünf Tore in der Champions League schießt, käme niemand auf die Idee zu sagen, das Boot sei voll. Man würde sofort sagen, wir brauchen noch zehn von denen.

Was bedeutet das für unsere Integrationspolitik?

Wir müssen jetzt sehr schnell anfangen, ein riesiges Heer von Talentscouts rauszuschicken, die herausfinden, was diese Flüchtlinge können, damit sie aus der Schublade der Opfer und des Mitgefühls in die Schublade der Fähigen und Talentierten kommen. Und dann schaffen wir die Integration. Daran glaube ich.

Glauben Sie an Gott?

(Pause) Da bin ich mir ehrlich gesagt nicht sicher. Ich habe meine Mutter, bevor sie gestorben ist, ein Jahr lang gepflegt. Und meine Mutter hatte die schlimmsten Kriegserfahrungen als 14-jähriges Mädchen, die man sich vorstellen kann. Sie hat nicht an Gott geglaubt und war eine überzeugte Atheistin. Aber die Art und Weise, wie sie gestorben ist, die war beeindruckend, mit einer Disziplin, einer Sicherheit und angstfrei, wie ich das nie vermutet hätte. Mein Vater dagegen war höchst angstbesetzt und ein tiefgläubiger Katholik.

Was bedeutet diese Erfahrung für Sie?

Ich halte den Tod für göttlich. Er erlöst menschliche Fehler und dann ist tatsächlich jeder gleich. Das ist ein sehr schöner Moment. Da gibt es keine Hierarchie mehr.

Sie verhandeln auf ihrer Bühne die grundlegenden Fragen des Lebens. Was treibt Sie an?

Wir stehen einem Kontinent mit dem stärksten Bevölkerungswachstum gegenüber, Menschen, die keine Perspektive haben. Das Thema lässt mich einfach nicht los. Aber wir müssen uns klar machen, dass diese Leute für uns eine ganz massive Bereicherung sind, dass wir ihre Talente nutzen können, dass wir ihre Fähigkeiten unbedingt brauchen.

Kann man dem Elend der Welt mit den Mitteln des Theaters begegnen?

Natürlich ist das der Ansatz, den ich habe: die Welt zu verändern. Wir werden sicher nicht sehr viele Menschen damit erreichen. Aber wenn ich nur ein kleines Theater habe, dann ist dieses kleine Theater meine Welt. Die ist winzig, das weiß ich, aber nur hier kann ich die Welt verbessern.

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