Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Nachtgeschichten:Die Aufreizende

Lesezeit: 5 min

Rotlicht, Alkohol und viele Uniformierte: Die Schillerstraße spielt gekonnt mit dem Mythos des verruchten, gefährlichen Bahnhofsviertels. Verbotenes entdeckt aber nur, wer sich dort genau auskennt.

Von Thomas Anlauf

Ein Champagner wäre jetzt ganz nett, findet Maria. Sie ist ziemlich leicht bekleidet, das liegt an ihrem Arbeitsplatz in der Bar Femina, wo sich eine Frau nach der anderen im roten Scheinwerferlicht an einer Eisenstange festhält und zuletzt umständlich ihr Höschen fallenlässt.

Maria erzählt unterdessen ungefragt, sie sei aus Griechenland, was ja eigentlich nebensächlich ist. Wichtig wäre ihr der Champagner, klar, für den Umsatz. Nur zwei Gäste sind jetzt um zwei Uhr nachts in der schummrigen Bar an der Schillerstraße, doch für eine Schampusspende reicht das Geld der beiden nicht mehr. Schließlich kostet hier schon ein Viertel Weißwein 15 Euro. Also ist Maria schnell wieder verschwunden. Dafür taucht kurz darauf eine andere Dame in schwarzer Unterwäsche auf und raunt drohend auf Englisch: "Lösch die Bilder auf dem Handy, now."

Es war eigentlich ohnehin nichts zu erkennen auf den Fotos von der Bar, rote verwischte Farben, alles sehr unwirklich, so wie auch dieses Cabaret wirkt in einer Straße, die so weltstädtisch sein möchte und an manchen Stellen wie eine Vorortgasse wirkt. Die Schillerstraße bei Nacht, das klingt verrufen und ein wenig gefährlich. Doch die Polizei gibt auf Anfrage den Tipp, wenn man dort wirklich etwas Kriminelles entdecken will, soll man bereits zwischen 18 und 23 Uhr mal in einen der Hinterhöfe schauen. Das heißt wohl: Nachts schlafen die Dealer doch.

Die Dame am Hotelempfang im Rilano 24/7 ist beim Einchecken um 20 Uhr äußerst freundlich. "Wenn nachts die Eingangstür geschlossen ist und die Zimmerkarte nicht funktionieren sollte, bitte einfach klingeln." Man sei schließlich 24 Stunden für den Gast da, sieben Tage die Woche, 24/7 eben. Das Zimmer im sechsten Stock ist modern eingerichtet, hinter dem Doppelbett wurde das Wort München senkrecht an die Wand gedruckt, in den Buchstaben sind Fotos von München, Monopteros und Frauenkirche eingearbeitet, aber nicht eine einzige Ansicht der Schillerstraße. Die ist wohl nicht schillernd genug.

Dabei pinselt die gerade versunkene Sonne den Himmel hinter dem Hauptbahnhof in zauberhafte Farben. Ein korpulenter Mann fährt im Elektrorollstuhl vorbei und will von jedem der Gäste, die vor dem Schillerbräu den Sommerabend genießen, zwei Euro. Er scheint hier bekannt zu sein. Der Kellner schimpft ihn für den Bettelversuch, der Mann schimpft zurück und fährt weiter. Eine Frau in rotem Glitzerhemd läuft im Halbstundentakt auf und ab, mit der Zeit, als sich die Nacht über die Schillerstraße wie ein dunkelblauer Teppich breitet, werden diese Menschen beinahe schon zu Vertrauten.

Ein alkoholfreier Drink hier im Schillerbräu heißt "Verführerische Franzi", ein Gemisch aus Maracuja, Rhabarber, Ingwer, Limette, Eiswürfel und Wasser. Das Eis hat der Kellner, der jedem ungefragt an die Schulter fasst, nicht serviert. Das ist aus, macht nichts: Er läuft mit einem Bierkrug über die Straße und holt sich von einem Hotel drüben einen Schub Eiswürfel für seine Gäste. Hand auf die Schulter und ein großes Lachen.

Jetzt, zwischen neun und zehn Uhr abends, haben die meisten Läden in der Schillerstraße natürlich schon geschlossen. Doch beim Friseur-Salon "Großer Boss" brennt noch Licht, drei Männer warten auf ihre Schur, die gibt es ab elf Euro für Herren, Frauen 15, Kinder neun Euro - "mit oder ohne Termin", so steht es auf der Glasscheibe.

Weiter hinten, wo die nur etwa 700 Meter kurze Schillerstraße ins Klinikviertel übergeht, ist es um 23 Uhr still wie in einem Dorf und vielleicht sogar noch dunkler. Neben einer Klingelleiste, die Hinweise auf ein Palliativ-Team gibt, hängt an einem Gittertor das Plakat für die Aufführung eines Theaterstücks von Tot Taylor: "The Story of John Nightly", zweiter Innenhof, Treppe rechts runter, steht unter dem Plakat. Das Gittertor ist verschlossen.

Aber es gibt genügend andere Hinterhöfe in der Schillerstraße, in der manchmal auch ungebetene Gäste vorbeischauen. In einem Eingang kauert gegen Mitternacht zusammengesunken ein Mann, der von irgend etwas zu viel genommen hat. Er ist nicht wirklich ansprechbar. Jetzt wäre einer der Leute des Kommunalen Außendienstes hilfreich, die hier seit einem Jahr für Ordnung und Orientierung der Touristen oder Gestrandeten zuständig sind. Doch seit sechs Stunden ist in der Schillerstraße keiner der blau Uniformierten des Kreisverwaltungsreferats zu sehen.

"Sie können auch nicht immer überall sein", sagt Referatssprecher Johannes Mayer am Tag darauf. Noch immer ist der vom Stadtrat bestellte Ordnungsdienst nicht ganz vollzählig. Die Streifen kümmern sich aber tatsächlich häufig um Menschen, die im Bahnhofsviertel betrunken und scheinbar leblos herumliegen - die angenehmeren Aufgaben sind natürlich, verirrten Touristen den Weg zu weisen. Für die harten Fälle ist ohnehin die Polizei zuständig.

"Im vergangenen Jahr gab es im Bahnhofsviertel an fast jedem zweiten Tag einen Großeinsatz mit einer Einsatzhundertschaft", sagt ein Polizeisprecher. "Wir sind da ziemlich schnell vor Ort, das wissen die Leute auch", sagt der Sprecher. Wen sie dort schnappen, habe meist Delikte im Bereich der Kleinkriminalität begangen, Dealen, Diebstahl, solche Sachen. "Das ganze Bahnhofsviertel ist unter Beobachtung."

In der Nacht stehen in der Schillerstraße auch private Sicherheitsdienste herum, etwa vor dem "Atlantic City", einem riesigen Erotik-Schuppen mit Kinos, einem sogenannten Emergency-Room nur für Pärchen und einem erotischen "Unterhaltungsprogramm der absoluten Spitzenklasse", wie das Atlantic City in seiner Eigenwerbung betont. Es geht aber auch durchaus weniger sexy in der Schillerstraße zu.

Um ein Uhr sitzt noch ein reiferes Pärchen vor dem Sport-Café Schiller vor der Tür und diskutiert angeregt. Die Beiden sind aus der Gegend von Manchester und haben Karten für ein Konzert im Olympiastadion. "Wir waren schon öfter in München", sagt Jeff. "Wir lieben diese Stadt." Die Schillerstraße - gefährlich? Beinahe bürgerlich wirkt sie in dieser Nacht. Nur entlang der Straße leuchten die Animierschuppen in aufreizendem Rot.

Es ist noch mild draußen, alle Tische sind belegt. Bis drei Uhr nachts lässt die Wirtin Andrea Langwieder die Leute auf dem Gehweg den Sommer genießen, geöffnet hat sie ohnehin bis kurz vor Sonnenaufgang um fünf Uhr früh. Seit drei Jahrzehnten arbeitet sie nun im Schiller, an sieben Nächten in der Woche. Die 62-Jährige sitzt vor ihrem Lokal vor einem erkalteten Milchkaffee, sie hat gerade etwas Zeit zum Plaudern.

"Ich liebe den Laden, ich liebe die Leute, ich habe Stammgäste rund um den Erdball", sagt Andrea Langwieder und zieht an ihrer Zigarette. Dass von Mitternacht an ein Türsteher über die Szene wacht, sei lediglich eine behördliche Auflage. "Ich bewege mich hier auch in der Nacht im Freien, ich bin nicht bewaffnet", sagt sie und lacht. Dies ist eben das Bahnhofsviertel und hier ist ihr Lebensmittelpunkt. Tag und Nacht ist sie inmitten der Sportdevotionalien, die Andrea Langwieders 2001 verstorbener Lebensgefährte Hans Fretz gesammelt und zahlreiche Prominente in den Laden am Eingang der Schillerstraße gelockt hatte.

Bis heute hat sie unzählige Stammgäste, das sind auch Leute wie der Hans am Nebentisch, der jeden Tag seine fünf Bier trinkt. "Vor Dienstbeginn kommen auch die Damen von den Läden", sie meint damit die Animierdamen der Erotikschuppen in der Straße. Und natürlich viele Fußball- oder Tennisfans, egal welcher Nation. In dieser Nacht muss Andrea Langwieder zum Glück noch nicht auswendig wissen, welche Spiele auf welchem Sender laufen, um sie für die Gäste auf einem der Fernseher im Lokal zu programmieren. "Aber wenn die Bundesliga wieder losgeht, haben wir jeden Tag Remmidemmi."

Mittlerweile ist die Schillerstraße zur Ruhe gekommen, das Café hat um fünf Uhr zugesperrt. Nur weiter hinten, in dem Laden, der "Live Show" verspricht, sitzen noch zwei Männer mit leicht bekleideten Frauen an der Bar. Auch aus dem Cabaret Broadway dringt leise Musik. Ein Tourist wankt die Straße entlang mit gesenktem Kopf, in der Hand schwenkt er einen schweren Hotelschlüssel. Das Atlantic hat längst die Gitterrollos heruntergelassen, die Rezeption des mk-Hotels liegt im Dunkeln. Auf dem Gehweg stehen drei junge Männer, die leise diskutieren. Einer hält ein Kristallglas aus einer Bar in der Hand, in der anderen einen Joint. Ein Taxi biegt um die Ecke, es knallt unter dem Reifen, ein Kristallglas zerbirst in Hunderte Teile.

Die Scherben der Nacht kehrt ein blinkender Reinigungswagen fort, die Straße glänzt feucht von der Berieselung. Am Straßenrand steht trotz der nahen Dämmerung ein weißer Mercedes mit Starnberger Kennzeichen, darin sitzt ein Herr mit grauen Schläfen und wartet wohl darauf, dass eine Dame von einem der Läden einsteigt. Es ist sechs Uhr, am Himmel über der Schillerstraße leuchtet nun fast aufreizend eine rote Wolke. Sie steht ihr gut.

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Quelle:
SZ vom 07.08.2019
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