Süddeutsche Zeitung

Coronavirus in München:"Diese Zeit war schlimmer als die Flucht"

Weil sie mit dem Coronavirus infiziert waren, mussten alleinerziehende Frauen mit ihren Kindern bis zu 33 Tage in Quarantäne leben - vor allem die Kleinen leiden bis heute unter den Folgen der Isolation.

Von Sven Loerzer

Ihre Tochter hat alles mitbekommen, und jetzt, drei Monate danach, schreit sie immer, wenn sie nur aus der Ferne einen Krankenwagen erblickt. Ein solcher Krankenwagen hatte die Vierjährige und ihre Mutter weg aus der vertrauten Umgebung im Haus für Mutter und Kind in Sendling gebracht. Weil die junge Frau positiv auf das Coronavirus getestet worden war, musste sie mit ihrem Kind in eine Quarantäne-Unterkunft für Wohnungslose ziehen. "Das war eine harte Zeit für uns."

Die Infektion blieb ohne Symptome, aber 33 Tage lang durften Mutter und Kind das Zimmer nicht verlassen, mitten im Sommer "keine Sonne sehen, keine frische Luft atmen", wie die 25-Jährige erzählt. "Diese Zeit war schlimmer als die Flucht aus Somalia", sagt die alleinerziehende Mutter. Ständig habe ihre Tochter gefragt, "wann gehen wir?" Als die beiden dann endlich ins Haus für Mutter und Kind zurückkehren konnten, half die Tochter beim Zusammenpacken.

Das Coronavirus hat auch das Haus für Mutter und Kind in der Bleyerstraße nicht verschont. Für die jungen, alleinerziehenden Mütter mit zumeist noch sehr kleinen Kindern hatte das einschneidende Folgen: Sie mussten zur Quarantäne in ein anderes Haus umziehen, denn die 64 Apartments im Haus für Mutter und Kind verfügen nur über Gemeinschaftsbäder.

Neun Personen waren betroffen und mussten in Quarantäne. Weil für die jeweils nicht selbst betroffenen Mütter oder Kinder dann als Kontaktperson im Anschluss ebenfalls Quarantänepflicht galt, blieben die Betroffenen bis zu 33 Tage völlig isoliert, berichtet Silvia Haninger, Leiterin der vom Paritätischen Wohlfahrtsverband betriebenen Einrichtung, die sich um schwangere junge Frauen und junge Mütter kümmert, die keine Wohnung haben oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Im Haus an der Bleyerstraße erhalten die Frauen zusätzlich zur Wohnmöglichkeit Beratung und Unterstützung, bis sie in eine eigene Wohnung ziehen können.

"Den von der Quarantäne betroffenen Frauen ging es furchtbar schlecht", berichtet Silvia Haninger. Viele der Mütter und Kinder kommen aus sehr schwierigen Lebensverhältnissen, sind traumatisiert. Die psychische Belastung sei gerade für Frauen mit Fluchthintergrund oder unschönen Erfahrungen ganz besonders schlimm. Die Mitarbeiterinnen des Hauses für Mutter und Kind hätten zwar telefonisch Kontakt gehalten, aber die Frauen, die zuvor Deutschkurse besucht hatten oder arbeiteten, blieben in der Quarantänezeit mit den Kindern allein auf sich gestellt. "Dann wochenlang mit Babys und Kleinkindern eingesperrt zu sein, bedeutet für alle großen psychischen Stress."

Eine schlimme Situation, für die Silvia Haninger niemandem einen Vorwurf machen will, denn die Corona-Pandemie stellte alle vor eine völlig neue Situation. Silvia Haninger befürchtet aber, "dass es noch weitere Fälle geben wird". Einen Teil des Hauses, wie es vom Robert-Koch-Institut empfohlen werde, für Quarantäne vorzuhalten, sei nicht möglich, zumal bei Vollbelegung. Die Apartments in dem Haus aus den Sechzigerjahren verfügen nur über eine kleine Kochnische und ein Waschbecken. Quarantäne sei wegen der Gemeinschaftsbäder nicht möglich.

Haninger weiß natürlich, "dass Quarantäne für alle betroffenen Menschen sehr belastend ist". Dennoch hofft sie darauf, dass die Stadt sich ein Konzept überlegt, das den speziellen Anforderungen besser gerecht wird. "Eine kindgerechte Grundausstattung wäre wünschenswert", sagt Sonja Hoch, die für die Kinderbetreuung im Haus zuständig ist. Zudem müsse eine pädagogisch-psychologische Betreuung unter Einhaltung der Hygieneregeln möglich sein, fordert die stellvertretende Hausleiterin Laura Fischer. Man habe zwar den Kontakt über Handy gehalten und Briefe geschrieben, doch das reiche nicht aus, um der Retraumatisierung zu begegnen. So bekomme ein Junge immer noch Panik, wenn er in einem geschlossenen Raum ist. "Selbst im Gefängnis gibt es Hoffreigang."

"Es war eine harte Zeit", sagt eine 28-jährige Frau aus Somalia, deren einjähriger Sohn positiv getestet wurde. Mit ihm und ihrem dreijährigen Sohn verbrachte sie 31 Tage in Quarantäne in einem Zimmer, das sie nicht verlassen durfte. "Ich habe versucht, die Kinder irgendwie zu beschäftigen", erzählt die junge Mutter. "Mein Großer hat mich jeden Tag tausendmal gefragt, wann er endlich rauskommt." Die Mutter musste ihn immer wieder vertrösten. Noch drei Monate danach plagen ihn Albträume. "Es gab immer wieder Feueralarm mitten in der Nacht, da ist er erschrocken." Noch heute ängstigt er sich vor dunklen Uniformen, wie sie die Sicherheitsleute in dem Haus trugen. "Ich habe oft überlegt, ob ich meine Sachen packe und mit den Kindern einfach wegrenne", erklärt die alleinerziehende Mutter.

Mit den Auswirkungen von Quarantäne auf Menschen in schwierigen Lebenslagen beschäftigt sich inzwischen auch die Münchner Rathauspolitik. "Quarantäne und soziale Isolation können schwerwiegende Folgen für die psychische Gesundheit haben", befürchten die Fraktionen von Grünen/Rosa Liste sowie SPD/Volt, und mit Existenzängsten, Angst vor Erkrankung und auch Gewalt einhergehen. In einem gemeinsamen Antrag fordern die beiden Rathausfraktionen deshalb vom Gesundheits- und vom Sozialreferat ein Konzept, um die möglichen Folgen von Quarantänemaßnahmen in prekären Wohn- und Unterbringungssituationen abzumildern und verträglicher zu gestalten.

Die Verwaltung soll außerdem darstellen, was getan wurde, um ältere Menschen und pflegende Angehörige während des Lockdowns zu unterstützen. "Wir müssen davon ausgehen, dass auch in den kommenden Monaten immer wieder Quarantäne-Maßnahmen notwendig sein werden", begründete Clara Nitsche, Vize-Fraktionschefin von Grünen/Rosa Liste, die Initiative. "Die Stadt muss sich daher Gedanken machen, wie sie diesen Konsequenzen der Pandemie begegnen kann."

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SZ vom 08.09.2020/kafe
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