Noch vor 30 Jahren, so erzählt es der Mediziner Bernhard Hemmer, habe ihm sein damaliger Chef empfohlen, den Begriff Multiple Sklerose (MS) im Gespräch mit Patienten zu vermeiden und in Arztbriefen lieber Verklausulierungen zu verwenden. Den Betroffenen habe man geraten, alsbald in Frührente zu gehen, auf Sport zu verzichten und keine Kinder zu bekommen.
"Das war eine sehr negativistische und defensive Beratung dieser Patienten", sagt Hemmer, der heute als Direktor die Neurologische Klinik am Klinikum rechts der Isar (MRI) der Technischen Universität München leitet. Seither habe sich der Umgang mit der Krankheit radikal geändert. So empfehle er Betroffenen heute genau das Gegenteil - "also das Leben zu leben und zu versuchen, in die Normalität zurückzukommen", sagt der 59-Jährige.
Der Wandel sei einhergegangen mit beachtlichen Fortschritten bei der Therapie von Multipler Sklerose. Dennoch stellt die unheilbare Krankheit die Forschung noch immer vor zahllose Rätsel. Einen Beitrag zu deren Entschlüsselung wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des MRI künftig in einem eigenen MS-Zentrum auf dem Klinikareal in Haidhausen leisten, das deutschlandweit einzigartig sein wird, sagt der Direktor.
Nicht nur werde man in dem Neubau die bisher auf mehrere Standorte verteilte neurologische Forschung der Klinik bündeln. Sondern unter demselben Dach soll künftig auch die Versorgung der mehr als 1000 MS-Patienten gewährleistet werden, die das MRI jährlich betreut. "Unsere Vision ist, dass wir wissenschaftliche Erkenntnisse direkt in die Klinik bringen", sagt Hemmer. Ende des Jahres sollen die Arbeiten an dem 43 Millionen Euro teuren Gebäude beginnen, die Fertigstellung ist für 2025 geplant.
Laut Schätzungen sind in Deutschland etwa 250 000 Menschen von MS betroffen, einer entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems. Diese verläuft meist in Schüben und tritt in ganz unterschiedlichen Ausprägungen auf. Während die Krankheit einige Patienten im Alltag kaum beeinträchtige, führe sie bei anderen zu schweren Behinderungen, sagt Hemmer. "Die landläufige Vorstellung, dass Multiple Sklerose immer zu einem Leben im Rollstuhl führt, ist falsch. Vielmehr ist der Rollstuhl in den ersten 20 Jahren nach der Diagnose eher die Ausnahme."
Auch um mit solchen Irrtümern aufzuräumen und die Krankheit "stärker in die Gesellschaft zu bringen", habe man das neue MS-Zentrum als offenes Gebäude konzipiert, in dem auch Initiativen von Betroffenen gefördert werden sollen, betont der Direktor. "Es ist wichtig, dass wir hier Lobbyarbeit betreiben und diese Krankheit auch entstigmatisieren."
Eigentlich hätte der Neubau, für den die Klaus-Tschira-Stiftung 25 Millionen Euro spendiert hat, schon längst fertig sein sollen. Doch die anfängliche Planung, die den Abriss zweier denkmalgeschützter Gebäude an der Trogerstraße vorsah, wurde zwischenzeitlich verworfen - vor allem wegen Protesten des örtlichen Bezirksausschusses.
Der überarbeitete Entwurf sieht nun den Erhalt der historischen Häuserfront sowie einen neuen Eingang an der Schneckenburgerstraße vor, was freilich - verbunden mit den Baupreissteigerungen durch die Verzögerung - zu einem beträchtlichen Kostensprung geführt hat. "Wir sind jetzt fast beim Doppelten der ursprünglichen Summe", sagt Hemmer mit Blick auf geschätzt 43 Millionen Euro, von denen der Freistaat zwölf Millionen und die Universität sechs Millionen Euro übernehmen werden.
Im Erdgeschoss des dreistöckigen Neubaus sollen sämtliche Einrichtungen für Patienten untergebracht werden - von der Diagnostik über Behandlungsräume bis zu Angeboten wie Ergo- und Physiotherapie. In den Etagen darüber findet derweil die Forschung statt, die laut Hemmer von kliniknahen Untersuchungen bis zur Grundlagenforschung reichen wird. Unverzichtbar hierfür sind ihm zufolge Tierversuche, vor allem mit Mäusen aber auch mit Fischen. Diese würden im Keller des Gebäudes gehalten.
Noch ehe der Neubau eröffnet wird, geht direkt daneben schon die nächste Baustelle in Betrieb: Von 2024 an soll angrenzend ans MS-Zentrum ein Zentrum für Digitale Medizin und Gesundheit (ZDMG) entstehen. Dort werden Medizinerinnen, Informatiker und Mathematikerinnen gemeinsam im Bereich Datenwissenschaften forschen.
"Da geht es um die Frage, wie man die Medizin durch das Auswerten großer Datenmengen und durch Künstliche Intelligenz besser machen kann", erklärt Hemmer. Auch das Thema Datensicherheit werde eine wichtige Rolle spielen. Das knapp 44 Millionen Euro teure ZDMG wird je zur Hälfte von Bund und Land finanziert, der Bezug ist für 2027 geplant. "Diese beiden Projekte", sagt Hemmer, "sind in den nächsten Jahren die größten Baumaßnahmen hier am Campus."