Im Nō-Theater gibt es keinen Dirigenten, weshalb Kent Nagano zunächst von der Seite aus zusieht. Die vier japanischen Musiker auf der Bühne der Muffathalle koordinieren ihre Einsätze selbst, durch laute Rufe. Es klingt wie „Joooo“ oder auch „Hoooo“, der Rhythmus hat etwas sehr Mechanisches und ist gleichzeitig sinnlich und wild, wie ein Vogel- oder Krötenkonzert.
In ihren ausladenden Gewändern knien sie da, schlagen Trommeln, die schöne Namen tragen, jedes ein charaktervolles Kunstwerk für sich. Die Hüfttrommel „Otsuzumi“ etwa gilt mit ihrer extrem trockenen, scharfen Membran als das schmerzhafteste Instrument der Welt. Wer sie spielt, sollte Fingerschutz tragen.
Es kommt nicht häufig vor, dass Kent Nagano vor einem Konzert zum Publikum spricht. An diesem Abend, seinem Debüt in der ausverkauften Muffathalle, tut der das ausgiebig. Denn er weiß, vieles bei „Spirit of the Moon“ wird verstörend sein, wenn in diesem Projekt uralte japanische Theaterkunst auf Arnold Schönbergs „Pierrot Lunaire“ trifft, wenn der Inbegriff starrer Brauchtumspflege in Kontakt gerät mit einem Werk der europäischen Moderne, das die Tonfreiheit feiert. Das Erstaunliche: Es kommt zu einer Art osmotischem Austausch, bei dem sich das Nō-Theater als höchst durchlässig erweist.
In Japan war es ein Skandal, als der berühmte Nō-Schauspieler Akihiro Yamamoto für sein Ensemble neue Stücke kreierte. Ein No-Go im Nō-Theater, denn dort ist das Repertoire in etwa so fix wie der Shakespeare-Kanon in Europa. Kent Nagano hörte davon und sah in Yamamoto einen Bruder im Geiste, denn beide sorgen sie sich um die Relevanz, das Überleben ihrer Kunst. Warum sich also nicht zusammentun? Und gemeinsam arbeiten mit Schönbergs „Pierrot Lunaire“.

Im Jahr 1912, bei der Uraufführung in Berlin, hatte es Tumulte gegeben. Albertine Zehme, Auftraggeberin des Werks, hielt sich tapfer, sprach, singsangte, gurrte, gluckste hingebungsvoll die „vertonten“ Gedichte des Belgiers Albert Giraud. Singen war das nicht, was die Diseuse da trieb. Völlig neu damals, und heute eine aussterbende Kunst, dieser Sprechgesang. Seltsam rhythmisiert zu Schönbergs kühnen Klängen, die Texte surrealistische Rätsel, groteske (Alb-)Traumfantasien eines lebensmüden, mondsüchtigen Wesens mit weißem Clownsgesicht.
Universelle Brücke
Ganz in Weiß, in prächtigem Kostüm, schweißnass unter der bleichen Maske, tippelt Meister Yamamoto auf die Bühne. In melodielosem, gepresstem Ton besingt er sein Schicksal, begleitet von den Instrumentalisten und einem Chor. Er mimt das Kaninchen, das dem Gott des Mondes nichts bieten kann, nur sein Leben. Zum Dank für sein Opfer darf er später zum Mond aufsteigen.
Es ist frappant, wie sich Yamamotos tief dröhnender, monotoner Nō-Gesang und Mihoko Fujimuras Vortrag auf geheimnisvolle Weise ähneln. Mit ihrem Bayreuth-erprobten Mezzosopran gibt sie an diesem Abend die Sprechstimme. Kent Nagano, der hier sechs Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg dirigiert, hatte also das richtige Gespür. Schönbergs „Pierrot“ kann eine universelle Brücke bilden zwischen den Kulturen. Ein Theatererlebnis hatte er versprochen, das jedes Zeitgefühl aufhebt. Er hat Wort gehalten.