Münchner Momente:Vorstufe zum Paradies

In der Modellstadt Tübingen haben die Biergärten wieder geöffnet, München muss leider noch warten.

In der Modellstadt Tübingen haben die Biergärten wieder geöffnet, München muss noch warten.

(Foto: imago images/ULMER Pressebildage)

München vergleicht sich normalerweise eher mit Städten in Norditalien oder mit Wien, jetzt soll's plötzlich Tübingen sein - wo offenbar so himmlische Zustände herrschen, dass man sie selbst in Bayern kopieren will.

Glosse von Max Ferstl

Da war es wieder, das I-Wort. I wie Ischgl. Münchens Wirtschaftsreferent Clemens Baumgärtner (CSU) hat es vor Kurzem benutzt, als er über die Chancen für das diesjährige Oktoberfest sprach. Die Wiesn dürfe nicht "zu einem Ischgl werden". Also zu einem Superspreader-Event wie vor einem Jahr im Tiroler Skiort, bei dem erst Tausende feierten und anschließend das Coronavirus über Europa verteilten. Besser nicht nachmachen, da hat Baumgärtner recht.

Es ist grundsätzlich wichtig, welche Vorbilder man sich aussucht. Das gilt in der Schule (aus Elternsicht lieber die Mitschüler mit der Eins als die mit der Fünf), und das gilt für Städte. München weiß ziemlich gut, wie man nicht sein will: zum Beispiel ein "zweites Frankfurt", das wird bei jeder Debatte um neue Hochhäuser klar. Und natürlich auch kein Ort für "Ballermann-Partys", die mehrere Augenzeugen vergangenen Sommer am Gärtnerplatz beobachtet haben wollen. Enorme Mengen Bier, laute Musik, überall Besoffene - dafür sei kein Platz in dieser Stadt (zumindest nicht ohne Tracht).

Andere Vergleiche hingegen gefallen der Bevölkerung schon. Wer München als nördlichste Stadt Italiens bezeichnet, provoziert eher keine Proteste, jedenfalls nicht in München. Auch nach Wien schauen die Stadträte gerne, weil dort die Mieten vergleichsweise erschwinglich sind. Italien, Wien, das war bisher so die Liga. Seit Kurzem denkt die Stadtpolitik allerdings ein paar Nummern kleiner, es gibt jetzt ein neues Vorbild: Tübingen, wo offenbar so himmlische Zustände herrschen, dass man sie selbst in Bayern, das seit Horst Seehofer als "Vorstufe zum Paradies" bekannt ist, kopieren will. Trotz Pandemie haben in Tübingen Biergärten und Kinos geöffnet.

Alle wollen plötzlich "wie Tübingen" sein, auch München. Der Stadtrat hat sich als Modellregion beworben, wenn auch erfolglos, wie seit Dienstag feststeht. Dass auch in Tübingen die Fallzahlen steigen? Dass München seit Tagen an der 100er-Inzidenz kratzt (und an diesem Mittwoch tatsächlich auch überschritten hat)? Schien keinen groß zu stören. Als wäre es nicht so schlimm, wenn alle schlecht sind. Dabei könnte man sich ja durchaus mal mit den Einser-Schülern der Corona-Prüfung vergleichen, zum Beispiel mit dem australischen Melbourne. Es ist schön dort. Die Menschen dürfen ins Restaurant gehen oder tanzen oder sich zu Hause mit bis zu 100 Freunden treffen. Die Zahl der neuen Corona-Fälle: null. Gerne nachmachen.

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