Süddeutsche Zeitung

Entsorgung:"Müll ist ein Machtinstrument"

Das gilt vor allem für den Verkauf in Schwellenländer. Die Wissenschaftlerin Simone Müller fordert ein Ende der weltweiten Exporte - und glaubt, dass jetzt die Zeit der großen Veränderungen gekommen ist.

Interview von Birgit Kruse

SZ: Jeder Münchner produziert jährlich 200 Kilo Müll. Und die Menge wächst stetig. Gleichzeitig liegen Unverpackt-Läden, Mülltrennung und nachhaltiger Konsum im Trend. Lügen wir uns damit in die eigene Tasche?

Simone Müller: Das Phänomen, dass immer mehr Müll produziert wird, kann man seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beobachten. Vorher waren westliche Gesellschaften viel mehr auf Wiederverwertung getrimmt. Seit den Fünfzigerjahren sind die Menschen immer mehr zu Konsumenten erzogen geworden. Kürzere Innovationszyklen und damit verbundene kürzere Produktlebenszeiten fördern zusätzlich den Konsum. Gerade im Smartphone-Bereich kann man verfolgen, wie uns die Werbung antreibt, immer das neueste Produkt zu kaufen - und das alte ist dann Müll.

Und unseren Müll verschicken wir einfach ans Ende der Welt, frei nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Dieses Verhalten ist leider sehr menschlich: Man schmeißt seinen Müll weg - und damit ist er auch weg. Gerade in einer so sauberen Stadt wie München wird es uns leicht gemacht, nicht weiter über unseren eigenen Müll nachzudenken. Müll wird für die Menschen erst ein Thema, wenn er zum Problem wird. Wenn, wie in Italien, die Entsorger wochenlang streiken und sich der Müll auf den Straßen häuft und stinkt.

Info

Simone Müller, 36, leitet eine Forschergruppe zur globalen Ökonomie des internationalen Giftmüllhandels am Rachel Carson Center für Umwelt und Gesellschaft der LMU München.

Weg ist Müll zunächst einmal nur aus den Köpfen. Ein Teil davon ist dann auf dem Weg nach Südostasien oder Afrika. Ist unser Verhalten nicht sehr arrogant?

Obwohl alle Menschen Müll produzieren, ist er kein Gleichmacher. Müll ist ein Machtinstrument und zementiert bestehende Machtstrukturen und soziale Ungleichheiten. Das kann man sowohl global beobachten als auch lokal. Man muss sich nur ansehen, wo neue Deponien eröffnen: Das ist meist in struktur- und einkommensschwachen Regionen oder in den ärmeren Stadtvierteln.

Oder eben in Schwellenländern.

Sobald Müll über eine Grenze transportiert wird, ist das ein Geschäftsmodell; für viele Schwellenländer sogar ein sehr lukratives. Problematisch wird es im transnationalen Müllhandel vor allem dann, wenn unterschiedliche Standards und Technologien aufeinandertreffen. Besonders drastisch zeigt sich das Problem bei unserem Elektroschrott, der in den Slums von Agbogbloshie in Ghana landet. Um etwa das Kupfer aus den Ladekabeln der Handys zu gewinnen, werden diese auf große Haufen geworfen und unter freiem Himmel verbrannt. Die Menschen stehen daneben, ohne Schutzkleidung, meist sogar barfuß, und atmen die giftigen Dämpfe ein.

Gibt es überhaupt einen moralisch vertretbaren Müllexport?

Auf jeden Fall. Wenn Deutschland etwa seinen Müll an eine andere Industrienation verkauft. Zwischen den OECD-Ländern gibt es einen florierenden Müllhandel und hier herrschen ähnliche hohe technologische Standards. Die Niederlande beispielsweise haben sich auf Müllheizkraftwerke spezialisiert und kaufen im großen Stil Müll aus anderen EU-Nationen an, auch aus Deutschland. Was bleibt, ist natürlich die berechtigte Frage, wie ökologisch es ist, den Müll durch halb Europa zu karren.

Und es bleibt die Tatsache, dass wir erhebliche Mengen unseres Mülls in Ländern mit weitaus niedrigeren Standards entsorgen. Stehlen wir uns nicht zu leicht aus der Verantwortung?

Es ist und bleibt eine kolonialisierende Machtgeste, wenn wir einem anderen Land unseren Müll vor die Füße kippen. Der Weg für die Zukunft muss sein, dass der Müll dort bleibt, wo er produziert wird. Also hier bei uns. Doch die Entsorgungssysteme wären derzeit gar nicht auf so viel zusätzlichen Müll ausgelegt.

Und die Bevölkerung wäre trotz des wachsenden Ökologiebewusstseins mit einem so radikalen Systemwechsel vermutlich auch überfordert.

Es müssen mehrere Faktoren zusammenkommen, damit ein derartig gewaltiger Wandel überhaupt funktionieren könnte.

Welche Faktoren sind das?

Ein Bewusstseinswandel wird im Wesentlichen von zwei Faktoren befördert: durch Öffentlichkeit, die durch Medien, Umweltorganisationen, aber beispielsweise auch durch die "Fridays for Future"-Bewegung geschaffen wird. Hier zählt auch der politisch interessierte Teil der Gesellschaft dazu, für den Umweltthemen wichtig sind. Der entscheidende Faktor ist jedoch das politische Klima. Ende der Achtzigerjahre hatten wir schon einmal eine politisch günstige Situation. Damals wurde das Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung geschlossen.

Was machte diese Jahre aus ökologischer Sicht so besonders?

Der Kalte Krieg war vorbei, die Staatengemeinschaft war dabei, sich neu zu sortieren, in den USA war Wahlkampf, Aktivisten machten Druck auf der Straße, und es gab ein gewisses Machtvakuum. Das hat etwa die Afrikanische Union genutzt, um deutlich zu machen, dass Afrika nicht mehr länger die Müllhalde der Welt sein will.

Stehen die Zeichen in der Politik derzeit ähnlich günstig?

Zumindest sehen wir gerade ein Fenster der Möglichkeiten. Auch wenn der Fokus sehr auf die Vermeidung von Plastik gerichtet ist, so ist in der Gesellschaft eine große Bereitschaft für grundlegendere Veränderungen da. Die Politik darf jetzt nicht in kleinen Gesten wie dem Verbot von Plastikartikeln verharren. Von der Politik braucht es einen Systemwandel, von den Menschen einen nachhaltigen Verhaltenswandel. Dieses Momentum muss man nutzen.

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Quelle:
SZ vom 16.07.2019
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