Pfarrer Martin Cambensy lässt sich schwer und schwitzend auf der langen, quietschgelben Holzbank nieder und lehnt behutsam seinen Gehstock an die Seite. Es ist brütend heiß im steingrauen Innenhof mit dem großformatigen Betonpflaster. Der 65-Jährige deutet mit dem Kopf nach links zum frei stehenden Campanile, der 14 Meter hoch über dem katholischen Pfarrzentrum St. Mauritius wie ein XXL-Kamin aufragt. „Früher war der mit Efeu bewachsen und leuchtete weithin rot, richtig schön.“ Jetzt steht ein wackliger Bauzaun am Fuß des betonierten Kirchturms, „er bröckelt“, die Glocken dürfen aus statischen Gründen nicht mehr geläutet werden. Überhaupt könnte die letzte Stunde geschlagen haben für diesen architektonisch herausragenden sakralen Ort Münchens und damit auch für das Herz der vergleichsweise jungen Gemeinde.
Das Pfarrzentrum ist einer der raren Vertreter des Brutalismus in der Münchner Pastoralszene. Der Begriff leitet sich aus dem Französischen „béton brut“ ab, reiner Beton. Was die einen als schroffe und abweisende Phase der Baugeschichte verunglimpfen, ist den anderen Inbegriff gestalterischer Konsequenz. Die Architekten Herbert Groethuysen, Detlev Schreiber und Gernot Sasse haben St. Mauritius 1967 in einem Guss wie ein kompaktes Beton-Raumschiff an der Moosacher Templestraße landen lassen und seiner Bestimmung übergeben.
Als in den 1950er- und 1960er-Jahren südlich der Dachauer Straße rege gebaut wurde, schnellte auch die Zahl der Bewohner in Moosach in die Höhe – und damit, so war das einst, auch die der Katholiken. Die alte Kirchengemeinde St. Martin platzte aus allen Nähten, erst behalf man sich mit einem Zelt für Gottesdienste, dann errichtete man an der Stelle das neue Pfarrzentrum St. Mauritius. Das Gotteshaus selbst ist hermetisch gefasst. Einzig über einen Würfel aus Oberlichtern dringt der Tag in die Kirche. Ein moderner Tempel der Kontemplation. Seit Mai 2024 steht er unter Denkmalschutz.


„Es gibt Leute, denen der Baustil nicht gefällt“, sagt Pfarrer Cambensy im Pfarrhof mit Blick auf die Kirche. Aber um Gestaltungsfragen geht es der Gemeinde inzwischen nurmehr nachrangig. Denn seit einem Jahr, sagt der Pfarrer, sprengt es nicht nur Betonstücke vom Campanile, die Armierungen hätten zu rosten angefangen, der Turm halte den Schwingungen der Glocken nicht mehr stand. In der Kirche selbst gebe es undichte Stellen, es regne rein, „man weiß nie genau, woher das Wasser kommt“, sagt Cambensy. Mittlerweile wurde der Strom abgestellt, das heißt: kein elektrisches Licht mehr, keine Orgel. An „ganz hellen Tagen“, wenn durch die Oberlichter genug Licht falle, feiere man hier ausnahmsweise noch Gottesdienst. „Für die Orgel legen wir dann eine Starkstromleitung rein.“ Ansonsten werden die Messen gegenüber im Pfarrheim abgehalten. Das zum Ensemble gehörende Pfarrhaus, das Mesnerhaus und der Kindergarten sind bereits saniert worden.
Seit Jahren, sagt Cambensy, habe man beim Ordinariat, also der Verwaltung der Erzdiözese München und Freising, auch Anträge für die absehbare notwendige Renovierung der Kirche gestellt. Keine Chance. Es habe immer geheißen, das Geld sei dafür nicht da. Und jetzt, ist ja allgemein bekannt, laufen den Kirchen die Mitglieder davon. Und damit schwinden auch die Kirchensteuergelder. In St. Mauritius hatten sie vor 15 Jahren noch mehr als 3700 Mitglieder. Jetzt sind es noch knapp 2900.

Kirche in Deutschland:Aus und Amen
Immer mehr Gotteshäuser werden geschlossen, verkauft, profaniert. Auch in Sankt Gertrud in Essen haben sie jetzt die Kreuze abmontiert und das ewige Licht gelöscht. Nur, wo driftet eine Gesellschaft hin, die ihren Glauben verliert?
Allein im vergangenen Jahr traten in der Erzdiözese knapp 27 500 Mitglieder aus, wie die Deutsche Bischofskonferenz vermeldet hat. Zum 31. Dezember 2024 lebten hier damit noch 1,42 Millionen Katholiken. Diese Entwicklung schlägt auch im Haushalt deutlich zu Buche: Nach aktuellen Zahlen sanken in der Erzdiözese München und Freising die Kirchensteuereinnahmen von 658 Millionen Euro 2022 auf 617 Millionen Euro im Jahr 2023, der vergangene Woche vermeldete Anstieg auf 645 Millionen Euro im Jahr 2024 erklärte sich vor allem durch Einmaleffekte.
Die Erzdiözese reagiert darauf mit einer Immobilienstrategie, die im Kern besagt: Helfe sich mit dem Erhalt der eigenen Immobilien selbst – wer kann. Die Pfarrgemeinden müssen es als sogenannte Kirchenstiftungen damit alleine richten. Sie sind Eigentümer der Häuser.
Doch denen schneit’s das Geld auch nicht zu den Oberlichtern rein. Cambensy zuckt mit den Schultern: Die Pfarrei sei so geschrumpft, „dass irgendwann der Letzte das Licht ausmacht und dann dasteht mit einer Riesen-Ruine. Der Zeitpunkt zum Umdenken ist gekommen.“

Will sagen, dass sie in St. Mauritius mittlerweile den entscheidenden Schritt weiter sind. Den, den sie in den meisten der gut hundert katholischen Pfarrgemeinden der Stadt fürchten, man muss sagen, wie der Teufel das Weihwasser: St. Mauritius bereitet den Verkauf der Kirche vor und beschäftigt sich in dem Zusammenhang auch mit einer möglichen Entweihung des Sakralbaus. Es könnte die erste Profanierung einer katholischen Münchner Kirche in jüngerer Vergangenheit sein.
Ein Verkehrswertgutachten sei bereits erstellt, sagt Cambensy. Über die Summen will die Gemeinde öffentlich noch nicht sprechen. Klar sei aber, sagt auf SZ-Anfrage Simone Egner, Leiterin der Kirchenverwaltung vom Pfarrverband Moosach-Olympiadorf, zu dem auch St. Mauritius gehört: „Wir können die Baulast von St. Mauritius nicht mehr tragen. Wir werden uns von Gebäudeteilen, also Kirche, Turm und Pfarrzentrum lösen müssen.“



Interessenten gebe es zuhauf, sagt der Pfarrer. Er spricht von einer orientalischen Kirche, die schon eine eigene Kirche in München habe, die ihr aber zu klein sei. Konkreter will er noch nicht werden. Ausstellungsmacher hätten ebenfalls angeklopft, und im Viertel selbst wünschen sich einige an der Stelle ein Kulturzentrum. Beim Thema Wohnen im brutalistischen Betontempel schüttelt der Kirchenmann energisch den Kopf: „Das gibt das Gebäude nicht her, das ist innen doch sehr duster.“ Er persönlich, sagt Cambensy erstaunlich nüchtern, könne sich auch ein Geschäftszentrum vorstellen, das sonntags ja geschlossen sei und dann für Kirchgänger die Pforte öffne. Verwaltungschefin Egner hofft, „baldmöglichst eine Lösung zu finden. Wir haben aber noch nicht im Detail mit den Interessenten gesprochen und kennen auch deren Zeitrahmen noch nicht. Ob das 2026 abgeschlossen werden kann oder erst später, können wir erst nach konkreten Gesprächen sagen“.
Mittlerweile, sagt Cambensy, rennen ihnen angehende Architekten die Bude ein. Zuletzt hat Professorin Uta Graff von der TU München ihren Master-Studiengang über eine Transformation von St. Mauritius Pläne machen lassen. Die Idee war auch, den gemeinschaftsbildenden Gedanken dieses Hauses in eine neue Zukunft zu führen. Ihre Entwürfe präsentierten die Studierenden im DG Kunstraum der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst in der Stadtmitte. Sie reichten vom geschützten Frauenhaus bis zum Trainingsbereich für Artistinnen, wo von der hohen Betondecke Trapeze baumeln.

Karin Berkemann hat sich das auch angeschaut. Sie ist Mitinitiatorin des sogenannten Kirchenmanifests, bei dem Theologen, Kunsthistoriker und Denkmalpfleger deutschlandweit neue Nutzungsformen für sterbende Kirchengebäude fordern. Berkemann referierte bei der Ausstellung darüber, dass Kirchen zu wichtig für öffentliche Räume seien, als dass nur eine kleine gesellschaftliche Gruppe über deren Zukunft entscheiden könne. In der gesamten Republik gebe es 40 000 bis 45 000 evangelische und katholische Kirchen, zählte die Kunsthistorikerin und evangelische Theologin auf. „20 000 davon werden in den nächsten Jahren aufgegeben werden müssen. Da rollt was auf uns zu.“ Gotteshäuser seien „mehrfach codierte Bauten“, Orte „von Liturgie und sozialer Verantwortung“. Nur weil eine Funktion erlösche, würden die anderen nicht sinnlos. Sie warb für Bündnisse innerhalb der Gesellschaft und engen Kontakt zur örtlichen Politik, um individuelle regionale Lösungen zu finden.
In Möbelhäuser fahren die Leute ja auch weiß Gott wohin, sagt der Monsignore
Mit der Stadt, sagt Cambensy, der dem Kirchenmanifest einiges abgewinnen kann, habe man schon gesprochen. „Die hat den Ball an uns zurückgegeben und gesagt, wir sollten uns erstmal selbst einig werden, ob wir bereit sind, die Kirche zu veräußern, wir sind am Zug.“ Ein Kilometer weiter liege St. Martin, die Hauptpfarrei, zu der man gehört. Es sei nicht schlimm, wenn man dann dort hingehen müsse. Die Leute würden ja auch in Einkaufszentren und Möbelhäuser weiß Gott wohin fahren, sagt der Kirchenmann mit dem Ehrentitel „Monsignore“. Zugleich wisse er um die hohe Identifikation der Gläubigen mit ihrer Heimatgemeinde.
Abnehmen kann die Entscheidung der St.-Mauritius-Familie niemand. „Über den Umgang mit ihrem Immobilienbestand“ inklusive Verkauf müssten die Kirchenstiftungen als Eigentümerinnen der Gebäude „autark“ befinden, sagt eine Sprecherin des Ordinariats. Die Kirchenbehörde berate aber auf diesem Weg. Einer Profanierung zustimmen müsse aber etwa Kardinal Reinhard Marx. Cambensy muss schmunzeln. Er erinnere sich noch an die Aussage des Erzbischofs von vor ein paar Jahren, keine Kirche aufzugeben.
Mauritius könnte die erste profanierte katholische Kirche in München seit Jahrzehnten sein, und wenn, wie Berkemann sagt, da „was anrollt“, was heißt das als Konsequenz für eine gesamtstädtische Planung über den eigenen Kirchturm hinaus? Tun sich Kirchen und Stadt zusammen und planen, ob und wo Pfarr-Immobilien abgegeben und als städtische Sozialräume künftig anders genutzt werden könnten?
Hinter den Wolken ist es hell
„Die Lokalbaukommission führt keine allgemeinen Gespräche mit den großen Kirchen hinsichtlich möglicher Umnutzungen“, sagt auf SZ-Anfrage ein Sprecher des Planungsreferats der Stadt. Das Ordinariat bleibt in der Frage auch vage mit Gesprächen zu „strategischen und stadtplanerischen Fragen“. Das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege, das bei denkmalgeschützten Ensembles wie St. Mauritius ebenfalls ein Wörtchen mitredet, verweist auf laufende Abstimmungen mit der Landeshauptstadt, um einen Überblick über betroffene Sakralbauten zu gewinnen.
Cambensy dreht auf der quietschgelben Bank im grauen Innenhof von St. Mauritius im Sitzen an seinem Gehstock. Er sei sich völlig klar darüber, dass er als Seelsorger bei einer Trennung seiner Gemeinde von ihrem Zentrum auch Trauerarbeit werde leisten müssen. „Jetzt sehen die Leute nur die Wolken. Aber dahinter ist es hell.“

