Süddeutsche Zeitung

Zug-Geschichte:Wie der Ruhrpott Sendling überrollte

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Auf Spurensuche im dichten historischen Gleisnetz: Im Münchner Süden künden heute noch Waggons, Gleise und Bahnanlagen von industriellen Glanzzeiten.

Von Jürgen Wolfram

Sie verlieren sich im Gestrüpp, verlaufen unter Betonplatten oder Schotter-Wällen, führen hinein in Werkhallen und Gewerbehöfe. Sie enden an einem vergessenen Prellbock oder an rot-weiß gestreiften Geländern ehemaliger Übergänge: Wie Wasserarme das Delta, so durchziehen stillgelegte oder extrem selten genutzte Bahngleise den Stadtteil Obersendling und seine unmittelbare Nachbarschaft.

Diese Relikte des Industriezeitalters zu entdecken, ihre Systematik zu entschlüsseln, hat sich die frisch gegründete Geschichtswerkstatt München-Süd zur Auftaktaufgabe gemacht. Ein Vortrag des Eisenbahnliebhabers Jochen Gottlieb zum Thema "Von Bochum bis zur heißen Hütte" im Nachbarschaftstreff Südpark war jetzt gewissermaßen das Startsignal und stieß auf große Resonanz. "Versuch geglückt, es gibt offenbar ein großes Bedürfnis nach historischer Erkenntnis", konstatierte Rudolf Zirngibl, einer der Initiatoren.

Man hätte das eindrucksvoll bebilderte Referat auch anders nennen können. "Wie der Ruhrpott den Bahnhof Mittersendling überrollte", zum Beispiel. Über sagenhafte zehn Gleise und eine stattliche Laderampe hat diese seit 1854 existierende Station im Jahr 1966 verfügt. Ein wichtiger Grund: Unter Volldampf schaufelte die Bahn Urlauber aus dem deutschen Westen heran, die an diesem Knotenpunkt in Richtung Alpen umstiegen. Legendäre Direktverbindung: Dortmund - Sendling.

Die ganz große Zugnummer im Güterverkehr, der in Mittersendling abgewickelt wurde, ist über Jahrzehnte der Stahlriese Bochumer Verein (BVG) gewesen, der später mit Krupp fusionierte. Diese Gesellschaft lieferte all die Schienen, die in Obersendling kilometerlang verlegt wurden. Hie und da ist das Logo der Firma noch deutlich zu erkennen, sogar auf den Köpfen von Nägeln.

Die Schienenstränge, mit denen Obersendling für den Bahnverkehr erschlossen wurde, durchfurchen des Viertel in drei Hauptadern und mehreren Nebengleisen. Schon in den Zwischenkriegsjahren, erst recht aber in der Zeit des Wirtschaftswunders forderte jede Firma, die auf sich hielt, einen eigenen Bahnanschluss. Solche Unternehmen ballten sich lange in Obersendling. Siemens, Philip Morris, Perutz, Agfa, Klüber, Isar-Amperwerke, Eon, Katzenberger, Kaspar Walter Maschinenbau sind nur einige der klangvollen Namen. Selbst Saftproduzenten und Kartonagen-Hersteller tauchen als Haltepunkte auf. In industriellen Spitzenzeiten rangierten Loks und Güterwaggons vor den Laderampen von 40 Firmen. Viele von ihnen haben dem Münchner Süden längst den Rücken gekehrt und Platz gemacht für Wohnungsbau und Büronutzung. Auch ein konkurrierendes Verkehrsmittel, der Lkw, schmälerte nach und nach die Bedeutung der Bahn im Münchner Süden.

In der Blütezeit des Gewerbestandorts jedoch hing das Heizkraftwerk Kistlerhofstraße (heute Möbelhaus Kare) am Gleisnetz und stellte so seinen Öl-Nachschub sicher. Ein Autobahnamt, der städtische Holzhof sowie die Feuerwache an der Aidenbachstraße sind gleichfalls Zielpunkte der Schienenexpansion gewesen. Bis heute dient ein alter Kesselwagen den Brandbekämpfern zu Übungszwecken. Bei Kennern legendär sind jene Loks, die in Obersendling auftauchten. Die zwischen 1933 und 1978 gebaute "Köf" (Kleinlokomotive mit Ölmotor und Flüssigkeitsgetriebe) etwa, oder die quietschende V 60, die bei Regen gern mal "ausrutschte", sprich: entgleiste, wenn der Kurvenradius eng wurde.

Wäre man ein pensionierter Streckengeher oder einer dieser ehemaligen Bahnmitarbeiter, die bei der Querung von Zügen fahnenschwenkend den Autoverkehr stoppten, man fühlte sich in Obersendling wehmütig an einen Schlager von Christian Anders erinnert: "Es fährt ein Zug nach nirgendwo." Als Naturschützer wiederum hätte man am Zustand mancher Trassen seine helle Freude - sie gleichen üppig florierenden Biotopen. "Da käme man punktuell nur noch mit der Machete durch", hat Jochen Gottlieb bei seinen Sparziergängen festgestellt.

Think big. Das war an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die Maxime von Großindustriellen und Bauunternehmern. Sie hießen Baron von Finck oder Jakob Heilmann. Ihre Vision: durch die Errichtung eines Wasserkraftwerks an der Isar sowie die gezielte Verkehrserschließung per Bahn die Weichen zu stellen für die Entwicklung eines gigantischen Industriegebiets im Süden von München. In Obersendling sollte ihr Plan aufgehen, jahrzehntelang schien schrankenloses Wachstum eine Option zu sein. Den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft haben die Gründer sogenannter "Terrain-Gesellschaften" nicht mehr erlebt. Aber die Spuren, die sie hinterließen, sind bis heute unübersehbar.

Ach ja, und was war mit der "heißen Hütte" aus dem Vortragstitel? Das Etablissement an der Kistlerhofstraße, das bis in die Nullerjahre auch als "Blaue Lagune" firmierte, hatte mit einer Würstlbude herzlich wenig gemein. Hinter dem Namen verbarg sich vielmehr ein Mini-Bordell. Leicht erreichbar zu seiner Zeit schon eher mit dem Auto als mit dem Zug.

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