München:Mit Finelinern gegen das Grobe

Lesezeit: 3 Min.

Komplexe Themen wie Kolonialismus, Rassismus oder Sexismus verständlich erzählen, das wollen die "Erklär-Comics" von Illi Anna Heger, einem non-binären Menschen, der sich weder als ausschließlich weiblich noch männlich begreift

Von Justus Wilke

Ende September, es ist ein wunderschöner, himmelblauer Sonntag, da packt Illi Anna Heger früh am Morgen ihren Rucksack. Während andere den vielleicht letzten richtig warmen Tag des Jahres für einen Ausflug in die Berge nutzen, fährt Heger zum Von-Erckert-Platz in Trudering. Im Gepäck hat sie ein kleines Skizzenbuch, Fineliner in verschiedenen Farben und ihr "Mini-Malset". So nennt Heger die Metallbox, die so groß wie ein Handy ist, aber genug Platz für ein Set aus Aquarellfarben bietet. Am Von-Erckert-Platz setzt Heger sich auf ein Sitzkissen, wie es sonst der Opa im Fußballstadion benutzt, und beginnt, Comics zu zeichnen. Ihr Motiv sind Teilnehmer einer Demo, die Kolonial-Straßennamen in München umbenennen wollen. Während die Aktivisten ihre Forderungen über das Mikro erklären, hält Illi Anna Heger diese Szene des Münchner Stadtlebens auf ihrem Skizzenblock fest.

Heger, 1978 in Ostberlin geboren, ist ein Mensch, der offensichtlich sehr umsichtig durch die Welt geht. Das merkt man allein an ihrer Sprache: Eigentlich redet sie ganz gern und lebendig vor sich hin, sodass man ihr kaum folgen kann. Aber wenn sie über ein komplexes oder sensibles Thema spricht, hält sie oft inne. "Mmhh", sagt sie häufig, und es scheint, als würde sie jedes schwere Wort mit eigenen Händen auf eine Waage wuchten und dann entscheiden, ob sie es in den Mund nimmt oder nicht. Das vielleicht beste Beispiel für ihre bedachte Wortwahl ist vermutlich "Xier". Heger ist non-binär, also weder ausschließlich männlich noch weiblich, weder Mann noch Frau, und verwendet deshalb "Xier" als geschlechtsneutrales Pronomen anstelle von "Er" oder "Sie". Heger hat aber nichts dagegen, wenn man in der weiblichen Form über sie schreibt.

Live dabei mit dem Skizzenblock: Szene einer Demo gegen Kolonial-Straßennamen am Truderinger Von-Erckert-Platz. (Foto: Illi Anna Heger/oh)

Vor knapp einem Jahr machte sie sich selbständig und verdient ihr Geld seitdem mit eigenen Comics. Dabei geht es nicht um Heldentaten von Asterix und Obelix, sondern um nachdenkliche Geschichten. Heger selbst sagt, sie beschäftige sich mit "Marginalisierungen, von denen ich betroffen bin, und Themen, wo ich in der privilegierten Position bin". Konkrete Beispiele sind Illi Anna Hegers Comics über Queer-Feminismus oder eben Rassismus, wie die Skizzen von der Demo in Trudering.

Schon im Kindergarten im ehemaligen Ostberlin habe sie Machtunterschiede nicht ausstehen können, erzählt Heger. "Erwachsene, die für mich bestimmt haben, die aber nicht meine Eltern waren", die konnten das Kind ganz schön auf die Palme bringen. An der Grundschule begegnete Heger Sexismus, im Teenager-Alter befasste sie sich mit queeren Themen und bei einem Auslandsjahr in Toronto setzte sie sich intensiv mit Rassismus auseinander. Im Kindergarten konnte Heger ihr Unbehagen kaum in Worte fassen, im Laufe ihres Lebens kam sie dazu, sich immer mehr mit Stift und Papier auszudrücken.

So sieht sichIlli Anna Heger. (Foto: Illi Anna Heger/oh)

"Am Anfang waren es so Erklär-Comics", sagt Heger. Sie erinnert sich an ein Mittagessen in einer lichtdurchfluteten Kantine am Goetheplatz. Am Esstisch nahm sie Zettel und Stift in die Hand und zeichnete einen kleinen Comic, um ihre sexuelle Orientierung zu erklären. Nach dieser Skizze kam ihre erste Serie, nach der Serie kam ihre erste Ausstellung im Schwulen-Museum Berlin.

2003 zog Heger für ihr Studium nach München, "ich fand es hier krass sauber, aber auf eine nicht angenehme Art", erinnert sie sich. Heger gab der Stadt aber eine Chance, inzwischen fühlt sie sich hier pudelwohl und macht München jetzt zum Schauplatz für ihre Comics. Auf dem "Literaturportal Bayern" ist dieser Tage eine ihrer Geschichten erschienen. Diese beginnt an der Münchner Hererostraße und handelt vom deutschen Völkermord an den Herero und Nama. "Ich finde es krass, wie wenig deutsche Kolonialgeschichte in der Schule behandelt wird", sagt Heger. Mit ihrer Arbeit will sie dem Thema Rassismus eine zusätzliche Plattform geben. Ihre Erklär-Comics sollen nicht mehr nur Menschen erreichen, die mit ihr zu Mittag essen: "Ich habe immer wieder festgestellt, dass durch Comics ein leichterer Zugang für komplexe Themen geschaffen werden kann."

Wie umsichtig und bedacht Heger handelt, zeigt auch ihre umfangreiche Recherche für den Herero-Comic. Sie sprach mit Menschen, die mehr Erfahrung mit Kolonialismus und Rassismus haben als sie, und holte Bücher aus Münchner Bibliotheken. Heger ist bis heute erstaunt, wie viele Original-Quellen sie dort fand: "Ich hatte Berichte von deutschen Kolonialsoldaten von 1906, die bei den Massakern waren!" Heger achtete auch darauf, wie sie die Herero darstellte. Anstatt ein Foto abzumalen, das eine Gruppe Herero-Frauen mit nacktem Oberkörper zeigt, hat sie die Frauen mit Kleidung gezeichnet, um ihre Würde nicht zu verletzen.

Zurzeit arbeitet Illi Anna Heger ( www.annaheger.de) an einem autobiografischen Comic - ein Projekt, für das sie im vergangenen Jahr ihre Stelle in einem technischen Beruf gekündigt hat. "Es hat sich am Anfang wie ein Sabbatical angefühlt", sagt Heger. Nun aber, so sagt sie, könne sie sich vor Aufträgen von Museen und Bildungseinrichtungen kaum retten. Es laufe "extrem gut". Ob sie jemals wieder zu ihrem alten Job zurückkehren wird, weiß sie also nicht. Vielleicht verbringt Heger noch viele weitere Tage irgendwo in den Stadtvierteln, setzt sich auf ihr Stadion-Kissen und hält das Münchner Zeitgeschehen mit Finelinern und Aquarellfarben fest.

© SZ vom 24.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: