Die Szenerie erinnert ein wenig an ein Filmset. Eine Straße ist gesperrt, viele Menschen stehen herum, manche in Uniform, andere in gelben Westen, Anwohner schauen aus ihren Fenstern. Die Atmosphäre wirkt angespannt, obwohl fast nichts passiert. Tatsächlich aber ist vor sieben Wochen sehr viel in dieser ruhigen Wohnstraße in Milbertshofen geschehen, und es war damals auch kein Schauspiel, sondern schrecklicher Ernst. Ein junger Mann wurde am 3. Juni getötet, am helllichten Tag, auf offener Straße. Den mutmaßlichen Täter fasste die Polizei wenige Wochen später, er sitzt in Untersuchungshaft.
Dass die Schmalkaldener Straße, parallel zum Frankfurter Ring verlaufend, jetzt abgesperrt ist, liegt an einem aufwendigen Ermittlungsschritt der Münchner Mordkommission. Sie lässt von Spezialisten des Landeskriminalamts (LKA) die Tat nachstellen, scharfe Schüsse inklusive. Ralf Kästle, Sprecher des Polizeipräsidiums, erklärt, dass man diesen Aufwand nur bei sehr schwerwiegenden Verbrechen betreibe. Man wolle die „Tathandlung“ rekonstruieren. Dafür werden dreidimensionale Aufnahmen mit einer Spezialkamera gemacht. Sie erlauben es den Kriminalbeamten, mit entsprechender Brille den Tatort virtuell zu begehen.
Auch phonetische Gutachten werden erstellt, erklärt Kästle, deshalb werden Schüsse abgefeuert. Die so gewonnenen Erkenntnisse wolle die Kripo mit ihrem bisherigen Ermittlungsstand abgleichen: Passen die Daten aus der Rekonstruktion zu den vorliegenden Zeugenaussagen? Kann etwa ein Zeuge den Schuss überhaupt gehört haben? Das geschehe nicht, weil man konkrete Unstimmigkeiten in bisherigen Aussagen entdeckt hätte, sondern um die Ermittlungen abzurunden und wasserdicht zu machen. Zum Stand der Ermittlungen könne man nichts sagen, sagt Kästle.
Über den Ablauf der Tat ist dies bekannt: Am 3. Juni gegen 16.45 Uhr gerieten zwei Männer in der Schmalkaldener Straße in einen lautstarken Streit. Es fiel ein Schuss, durch den ein 24-Jähriger verletzt wurde; er starb wenig später im Krankenhaus. Die Bild-Zeitung hat ein Video veröffentlicht, das offenbar ein Anwohner gemacht hat, es zeigt Szenen der Tat. Der mutmaßliche Täter fuhr mit einem schwarzen Audi davon.
Das ist recht gut dokumentiert, weil die Szene von privaten Überwachungskameras aufgenommen wurde. So hatte die Polizei nicht nur rasch ein Foto des Fluchtautos, sondern bald auch eines des mutmaßlichen Täters. Der Wagen wurde später in Pasing abgestellt gefunden, so kamen Zielfahnder dem 21-jährigen Verdächtigen auf die Spur. Sie nahmen ihn in Weinheim in Baden-Württemberg fest.
Jetzt stehen zwei dunkle Autos genau dort, wo sie sich auch am Nachmittag des 3. Juni befanden. Ein schwarzer Volvo, er gehörte dem Opfer, abgestellt auf dem Fußweg; ein schwarzer Audi A3, längs zur Straße geparkt, halb auf dem Fußweg. Es sind die Original-Autos, am Audi fehlt das Nummernschild. Am Volvo sind viele weiße Streifen zu erkennen, sie stammen von der Spurensicherung, erklärt der Polizeisprecher.
Die Vertreterinnen und Vertreter der Medien beobachten die Szenerie aus knapp 50 Metern Entfernung. Zunächst bringt das LKA ein blaues, quaderförmiges Ding zum Einsatz. Es wirkt unscheinbar aus der Ferne, auch dann, wenn es auf einem Stativ montiert ist und sich um die eigene Achse dreht. Es ist die Kamera des LKA, die die dreidimensionalen Aufnahmen macht. Zwei Beamtinnen tragen sie mal hierhin, mal dorthin, das blaue Ding hat einen stabilen Tragegriff. Um die 80 000 Euro koste so ein Gerät, sagt eine Präsidiumssprecherin, und dass solche Kameras nicht nur von der Polizei eingesetzt würden, sondern auch in einem ganz anderen Gewerbe: auf dem Bau, um Baustellen abzubilden.
Die Polizei hat im Vorfeld die Anwohnenden mit einem Infoblatt über das, was in ihrer Straße passieren wird, in Kenntnis gesetzt. Der Zugang zu den Wohnungen sei aber den ganzen Nachmittag über möglich. Gegen 16 Uhr werden Schüsse abgegeben, „kontrolliert“, also keine Gefahr.
Alle – Journalisten, Anwohner, Beamte – warten auf einen Schuss. Es werde knallen, hat der Polizeisprecher angekündigt, geschossen werde mit demselben Modell wie die Tatwaffe, und das scharf. Es dauert aber noch.
Während sich die blaue 3D-Kamera noch dreht, steigt eine Drohne auf. Auch sie hat das LKA-Team mitgebracht, das Gerät fliegt in Höhe der Hausdächer die Schmalkaldener Straße auf und ab, wieder und wieder, auch sie mit einer Kamera ausgestattet. Nach einigen Minuten trägt ein Polizist sie in Händen, dann startet sie erneut und fliegt auf Kopfhöhe hin und her.
Je länger das Warten dauert, desto mehr dämpft der Sprecher des Präsidiums die Erwartungen: Es werde auch später, wenn es knallt, nicht wirklich spektakulär werden. Und so ist es dann auch. Die Köpfe an den Fenstern und die Menschen auf den Balkonen werden zahlreicher. LKA-Beamte begeben sich zum mutmaßlichen Täter-Auto, öffnen die Fahrertür, einer setzt sich hinein, ein anderer steht vor der Tür, wie das Opfer damals. Einer platziert bei den Autos einen braun wirkenden Kasten, es ist wohl der Kugelfang. Denn natürlich schießt der Beamte mit der Waffe nicht einfach irgendwohin, es wäre viel zu gefährlich. Derjenige, der den mutmaßlichen Täter verkörpert, feuert in einen Kugelfang.
Ein Polizist zählt runter, leise hört man ihn. Drei, zwei, eins, es knallt. Wenig später dasselbe nochmals, es war die scharfe Waffe. Es folgen zwei weitere Schüsse, zu erkennen ist eine Rauchwolke. Sie kommt aus einer Reizstoffwaffe, auch solch eine Waffe habe bei der Tat wohl eine Rolle gespielt, sagt Polizeisprecher Kästle. Später werden noch Autotüren geknallt, auch dieses Geräusch gilt es aufzuzeichnen und zu analysieren. Die Ergebnisse der Tatrekonstruktion werden wohl erst dann veröffentlicht werden, wenn es zum Strafprozess kommt.