Süddeutsche Zeitung

Umstrittenes Theaterstück "Vögel":"Das finde ich als demokratischen Vorgang nicht akzeptabel"

Nach Antisemitismus-Vorwürfen wurde es ausgesetzt, nun wird es in München doch wieder zu sehen sein: das Stück "Vögel", in dem es auch um den Nahostkonflikt geht. Theaterintendant und Regisseur Jochen Schölch sieht darin einen wichtigen Beitrag für die Stadtgesellschaft.

Interview von René Hofmann und Yvonne Poppek

Das Metropoltheater führt "Vögel" wieder auf. Das Stück des libanesisch-kanadischen Schriftstellers Wajdi Mouawad war im November ausgesetzt worden, nachdem der Verband jüdischer Studenten in Bayern (VJSB) und die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD) Antisemitismusvorwürfe gegen das Stück und die Inszenierung erhoben hatten und eine vielbeachtete Debatte auslösten. Vom 26. März bis Ende April wird es zwölf Aufführungen geben, kündigte das privatwirtschaftliche, aber von der Stadt München unterstützte Theater mit Sitz im Münchner Stadtteil Freimann an. Im SZ-Interview erklärt Jochen Schölch, Intendant des Theaters und Regisseur des Stückes, wie es zur Entscheidung kam und erläutert seine Sicht auf die Debatte.

SZ: Herr Schölch, warum führen Sie das Stück "Vögel" wieder auf?

Jochen Schölch: Weil ich es für ein wichtiges Stück halte. Es zeigt etwas, was wir in Israel sehen, aber auch hier, in München: einen tiefen Graben, über den hinweg ganz aggressive Auseinandersetzungen geführt werden. Das zu benennen und dann darüber zu reden, halte ich für wichtig. Für mich ist es ein Stück über Versöhnung und ich sehe die Möglichkeit, dass das wieder zum Tragen kommt. Außerdem glaube ich an die Mündigkeit der Zuschauer. Ich denke nicht, dass es der richtige Weg ist, dass irgendjemand entscheiden kann, wodurch Zuschauer vielleicht ihre Gedanken verändern oder in ein Gedankengut hineingetrieben werden. Für mich hat der Text eine ganz andere Wirkkraft, auch wenn dieser nach der Debatte um das Stück jetzt sehr belastet ist.

Wie gehen Sie damit um? Werden Sie die Inszenierung ändern?

Wir haben Modifikationen am Text vorgenommen, etwa am viel kritisierten Satz, den der jüdische Genetiker Eitan zu seinem Großvater sagt: "Wenn Traumata Spuren in den Genen hinterließen, die wir unseren Kindern vererben, glaubst du, unser Volk ließe dann heute ein anderes die Unterdrückung erleiden, die es selbst erlitten hat?" Obwohl das Wort "Shoah" nicht fällt, lässt sich das als Gleichsetzung der Behandlung der Palästinenser mit dem Holocaust lesen. Das ist inzwischen so oft gesagt worden, dass diese Stelle nun eindeutig konnotiert ist. Außerdem ist die Aussage ja falsch. Die Wissenschaft hat nachgewiesen, dass sich Traumata in den Genen ablesen lassen. In dieser Gemengelage haben wir gesagt, das ändern wir. Auch den Dialog, in dem die Großmutter bedauert, dass ihr Mann im Konzentrationslager nicht gestorben sei, denn dann würde sie ihn nicht mehr ertragen müssen, haben wir verändert. Nach der Aussetzung des Stückes haben mir viele Juden aus unserem Freundeskreis geschildert, welche Diffamierungen und Bedrohungen sie oder ihre Kinder immer wieder erleiden, bei denen das Wort "Gaskammer" eine Rolle spielt. Deshalb will ich es nicht mehr wiederholen. Die Dimension, mit der dies in dieser Stadt passiert, war mir nicht klar. Da hatte ich tatsächlich einen blinden Fleck in der Wahrnehmung.

Mit welchem Gefühl gehen Sie die Wiederaufnahme an? Glauben Sie, dass Sie die Kritiker mit den Änderungen befrieden?

Es ist kein befreites Gefühl, kein "endlich spielen wir es wieder". Ich rechne damit, dass es eine zweite Runde der Auseinandersetzung geben wird. Es ist mir schon sehr bewusst, was wir da tun. Nur ist es eine Abwägung: Das Stück nicht mehr zu spielen, wäre viel schlimmer. Der Schaden für die Stadt, auch für die Demokratie, wäre viel größer.

Wieso gab es eigentlich bis heute keine direkte Aussprache mit den Studierenden, die mit ihren Vorwürfen die Debatte auslösten?

Weil die nicht gewollt war. Ich habe direkt nach den ersten entsprechenden Äußerungen, die im Radio fielen, ein Gesprächsangebot an den Verband jüdischer Studenten in Bayern geschickt. Nach den zweiten Äußerungen wieder. Es kam nichts zurück. Stattdessen kam ein offener Brief, in dem es hieß: Das Stück darf nicht mehr gespielt werden, das Theater darf nicht mehr finanziert werden. Und in dem das Publikum als antisemitisch beschimpft wurde, weil es am Ende der Vorstellung applaudiert hat. Das hat mich total empört, woraufhin ich von einem "moralischen Fallbeil" gesprochen habe. Das würde ich so nicht wieder tun. Ich wollte wirklich eine inhaltliche Auseinandersetzung, wollte verstehen, ob ich etwas übersehen habe, etwas nicht kapiert habe. Dass gleich Maximalforderungen aufgestellt wurden, wäre auch nicht so schlimm gewesen, wenn die Reaktionen aus der Politik darauf anders ausgefallen wären.

Welche Reaktionen meinen Sie?

Dass Ludwig Spaenle, der Antisemitismusbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung von der CSU, ohne das Stück gesehen oder mit uns gesprochen zu haben, eindeutig und eilfertig Position bezieht. Dass Katrin Habenschaden, Münchens Kulturbürgermeisterin von den Grünen, die Absetzung des Stückes begrüßt und sagt, wenn es Verletzungen gibt, darf es nicht mehr gespielt werden. Das erwarte ich nicht von einer Kulturbürgermeisterin. Da erwarte ich, dass wir ein Gespräch führen, dass es einen Diskurs gibt, dass ein Diskurs angestoßen wird. Das ist nicht passiert. In der Presse war zu lesen, das Kulturreferat würde an eine Streichung der Förderung erst mal nicht denken. Da liest man natürlich sehr genau, aha, "erst mal". Auch Frau Habenschaden hatte das Stück weder gesehen noch gelesen, sie hat sich auf ein sogenanntes Gutachten der städtischen Fachstelle für Demokratie berufen. Das aber ist nicht öffentlich, es kann also keiner prüfen, was drinsteht. Das finde ich als demokratischen Vorgang nicht akzeptabel. Nachdem sich die Fachstelle immer mehr in kulturpolitische Fragen einmischt, halte ich es für unabdingbar, der Öffentlichkeit transparent zu machen, welche Rolle und welche Kompetenzen diese Stelle hat.

Die Grünen-Fraktion hat inzwischen eingeräumt, dass es ein Fehler war nicht klarzustellen, dass die Förderung für das Theater nie gefährdet war. Und immerhin organisierte sie ja einen Austausch zwischen Ihnen und den Studenten im Rathaus.

Über das Treffen wurde Stillschweigen vereinbart. Aber es ist ja bekannt, dass es dort den Wunsch gab, eine Kommission zu gründen. Da muss ich sagen: Das finde ich ganz schwierig. Wenn die größte Fraktion im Rathaus eine Kommission gründet, die Empfehlungen geben soll, dann sind das keine Empfehlungen mehr und es stellt sich unweigerlich die Frage: Wer soll denn am Ende die Person sein, die sagt - das ist bedenklich, das nicht? Oder nehmen Sie das sogenannte Gutachten, das die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus RIAS Bayern, zu dem Stück veröffentlicht hat: Wer den Bühnentext liest, erkennt, wie fehlerhaft und schlampig RIAS gearbeitet hat; der Verlag der Autoren hat ja entsprechend umfangreich widersprochen. Was ich an dem Gutachten aber wirklich schwierig finde, ist folgendes Zitat: "Es werden Juden gesucht, die keinen Antisemitismus gesehen haben wollen." Damit werden alle, zum Beispiel Meron Mendel oder C. Bernd Sucher, diffamiert, die eine andere Meinung haben. Und über das jüdische Ensemble der Uraufführung in Paris heißt es, die hätten den Antisemitismus natürlich schon gesehen, würden aber nichts sagen, weil sie ja wirtschaftlich abhängig seien. Ich verstehe wirklich nicht, wie in einer Stadtgesellschaft wie der unseren solche Sätze unwidersprochen stehen bleiben können.

Worauf führen Sie das zurück?

Es gibt den Begriff des israelbezogenen Antisemitismus. Mit diesem Wort habe ich tatsächlich ein Problem. Natürlich muss es immer möglich sein, die israelische Regierung zu kritisieren dafür, was für eine Politik sie gerade durchzusetzen versucht. Schon Adorno hat gesagt: Wenn man sagt, "ich als Deutscher darf dazu eigentlich nichts sagen" - dass damit das Problem eigentlich losgeht. Dass allein dieser kritische Blick auf die Politik des Staates Israel als Antisemitismus gesehen wird, halte ich für sehr schwierig. Diesen Graben gibt es aber auch hier in der Stadt, auch in der Stadtpolitik, und er wird nicht benannt. Es gab im Dezember 2017 im Stadtrat den Beschluss, der gegen Israel gerichteten Kampagne "Boycott, Divestment, Sanctions", kurz BDS, jedes öffentliche Forum in städtischen Räumen verweigern zu wollen. Auch ich halte die ganze BDS-Aktion für absolut falsch; per Stadtratsbeschluss allerdings jegliche Diskussion über BDS in städtischen Räumen verbieten zu wollen, ist schlichtweg undemokratisch. Der Beschluss wurde dann ja auch vom Bundesverwaltungsgericht gekippt, weil er gegen die Meinungsfreiheit verstößt. Geschlossen ist dieser Graben deshalb aber nicht: Bis heute gibt es hierüber keine offene Auseinandersetzung. Für mich ist das aber überfällig, wie man auch an der "Vögel"-Debatte gesehen hat. Das Stück verhandelt ja nicht das Judentum, sondern den Nahostkonflikt. Ein Gespräch über dieses Thema ist im Moment in der Stadt aber fast unmöglich, so wie ich es erlebe. Ich habe den Eindruck, viele trauen sich nicht, laut zu sagen, was sie wirklich denken, aus Angst auf einer "falschen" Seite eingeordnet zu werden. Das finde ich bedenklich.

Nun ist Antisemitismus aber eben ein real existierendes, anschwellendes Problem.

Das stimmt. Die Zahlen steigen. Auch dass der Antisemitismus in Teilen der Gesellschaft leider salonfähiger wird, würde ich unterschreiben. Ob deswegen mehr Bewusstsein geschaffen werden muss? Unbedingt! Aber ich glaube nicht, dass die Art, wie die "Vögel"-Debatte gelaufen ist, der Weg ist, um das zu erreichen. Ich glaube, durch das, was passiert ist, wurden bestimmte Gespräche schlicht verunmöglicht.

Was hätte die Auseinandersetzung denn Ihrer Meinung nach bringen können, wenn sie anders verlaufen wäre?

Zum inhaltlichen Teil des Stückes wurde viel Kluges gesagt: Dass es vielleicht einseitig ist. Dass es vielleicht in Teilen geschmacklos ist. Auch diese Sichtweise halte ich für legitim. Was ich aber eigenartig fand: Dass von einigen ganz klar formuliert wurde - nur wir kennen die Wahrheit. Und alle Stimmen, die sich anders geäußert haben, wurden gar nicht gehört. Egal, wer gesprochen hat, egal, was gesagt wurde: Die Argumente bleiben immer genau die gleichen. Das irritiert mich.

Was war Ihre ursprüngliche Intention mit dem Stück?

Seit 25 Jahren versuche ich, im Metropoltheater Stücke zu zeigen gegen Diskriminierung und für Verständigung. Dafür suche ich immer Themen, die gewissermaßen in der Luft liegen. Oft ranken sich diese dann um Familien, weil sich für mich viele gesellschaftliche Auswirkungen in dieser Keimzelle gründen. In "Vögel" geht es um einen innerfamiliären Konflikt. Deswegen war es für mich ein richtiges Stück, um zu erzählen: Da sind die Juden und da sind die Palästinenser und an Versöhnung ist überhaupt nicht zu denken. Und in dieser Szenerie gibt es dann eine Romeo-und-Julia-Utopie mit der Liebe zwischen dem jüdischen Genetiker Eitan und der arabischstämmigen Wahida, die Anlass bietet, alles noch einmal anders zu denken. So erzählt, betrifft das Thema uns hier auch: wie Traumata sich in den Familien weitertragen. Ich habe das Stück nicht politisch gesehen, der Theaterabend sollte kein Statement sein, mit dem ich Position beziehe. Das habe ich noch nie gemacht. Mir geht es immer um die Menschen: Wie leben die in solchen Verhältnissen, was macht das mit denen? Dann plötzlich in so eine Ecke gerückt zu werden, das ist wahnsinnig schwierig.

Werden Sie künftig ein anderes Programm machen?

Definitiv nicht. Dann mache ich eher zu.

Das ist zur Wiederaufnahme geplant:

Der Text wurde an einigen Stellen geändert. Um die kontroverse Debatte über das Stück abzubilden, sollen alle Veröffentlichungen zu dieser im Theater zugänglich gemacht werden, nach der Vorstellung soll es für das Publikum die Möglichkeit zum Austausch untereinander geben. Zudem will das Theater zwei Veranstaltungen dem Thema Antisemitismus widmen: Am 23. April liest Ronen Steinke (SZ-Autor) aus seinem Buch "Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt". Am 22. Juni diskutieren Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, und die Kulturwissenschaftlerin Stella Leder, die sich in der Debatte um das Stück unterschiedlich positioniert haben, erst miteinander und anschließend mit dem Publikum. Die Kontroverse soll aufgezeichnet und somit einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden. Aus Termingründen können nicht alle Darsteller der Ursprungsbesetzung mitwirken. Die zentralen Rollen des jüdischen Genetikers Eitan und die der arabischstämmigen Amerikanerin Wahida, die sich ineinander verlieben und so das Familiendrama auslösen, das vor dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts erzählt wird, werden neu besetzt: Anuschka Tochtermann und Sebastian Griegel übernehmen diese von Magdalena Laubisch und Leonard Dick. Sarah Camp (Leah Kimhi), Michele Cuciuffo (David), Anna Graenzer (Eden), Wolfgang Jaroschka (Etgar), Gerd Lohmeyer (al-Hasan al Wazzan), Anastasia Papadopoulou (Norah) und Hubert Schedlbauer (Rabbiner, Arzt) treten erneut auf.

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