Süddeutsche Zeitung

Messe rund um virtuelle Realität:Wo die Welten verschwimmen

Lesezeit: 3 min

Seit zehn Jahren treffen sich auf der Augmented World Expo Menschen, die sich für virtuelle Realität interessieren. Sie tauschen sich aus - wenn sie nicht gerade riesige Brillen tragen, die sie in andere Welten bringen.

Von Kathrin Aldenhoff

Jens Heineck sagt, er hat hier schon erwachsene Menschen über den Boden krabbeln sehen. Er selbst lag auf dem Rücken in seinem Büro, um sich ein Auto, das nur für ihn existierte, von unten anzusehen. "Daran gewöhnt man sich", sagt er. "Wir zeigen Dinge, die es nicht gibt." Gerade hat er einem Mann am Messestand des finnischen Unternehmens Varjo eine riesige schwarze Brille aufgesetzt. Diese Brille lässt den Mann die Welt um ihn herum nicht schärfer sehen. Es ist eine Brille, die eine andere Welt vor seinen Augen entstehen lässt. Eine virtuelle Welt, in der Autos in der Luft schweben, wenn Jens Heineck mal eben mit einem Mausklick am Laptop "die Physik ausschaltet", wie er sagt. Die echte Welt sieht der Mann mit der Brille nicht mehr, Jens Heineck muss ihn sanft zurückhalten, damit er nicht in einen anderen Besucher hineinläuft.

Es ist das erste Mal, dass Varjo seine neuesten VR-Brillen auf einer Messe zeigt, der Stand ist voller Menschen, die sie ausprobieren wollen. Autofirmen nutzen die Technik, um Kunden Fahrzeuge nach ihren Wünschen gestalten zu lassen. Die Kunden können sehen, ob Farben und Materialien zueinander passen, ob es ihnen wirklich gefällt, ohne dass diese Autos gebaut werden müssen. Ohne, dass es etwas kostet. Das finnische Unternehmen ist einer von etwa 100 Ausstellern auf der Augmented World Expo in München. Seit zehn Jahren gibt es die Messe, zum vierten Mal findet sie in Europa statt. Es ist, nach eigenen Aussagen, die weltweit wichtigste Messe für Augmented und Virtual Reality, an den beiden Messetagen werden 1800 Besucher erwartet.

Die nächste Dimension betreten, so lautet das Motto der Messe. Und wie es aussieht, haben darauf vor allem Männer Lust. Einer von ihnen fällt auf, auf den Rücken seines dunklen Sakkos sind die Anfangsbuchstaben der Messe mit grünen Glitzerstäbchen gestickt. AWE steht da, und der Schriftzug leuchte im Dunkeln, versichert der Mann im Sakko. Ori Inbar ist sein Name, er hat die Messe gegründet. Er glaubt, dass sich die Computer wandeln werden, weg vom zweidimensionalen wie wir es kennen, hin zu Computern, die uns umgeben. "Es passiert jetzt schon, es ist nicht nur die Zukunft", sagt er.

Warum er sich für diese neuen Computerwelten interessiert? Ihn habe es gestört zu sehen, wie die Menschen in seiner Umgebung vor dem Computer festsaßen und dabei die echte Welt verpassten. "Ich wollte das Internet und die echte Welt verbinden", sagt er. Er entdeckte die Möglichkeiten von Virtual Reality und sieht seine Mission darin, diese neuen Welten zu jedem einzelnen zu bringen.

In einer der Messehallen bewegen sich vier Männer in einer Art Arena, jeder in einer Ecke. Sie tragen schwarze Westen und Brillen und halten in jeder Hand einen Controller. Ein Kabel führt von der Brille nach oben, sie sehen ein wenig aus wie Marionetten. Und sie bewegen sich seltsam ferngesteuert, in der Welt eines Computerspiels. Die anderen Spieler und die Zuschauer nehmen sie nicht wahr. Und die wiederum können auf großen Bildschirmen, die den Spielverlauf zeigen, nur erahnen, was in den Spielern gerade vor sich geht.

Ein paar Schritte weiter vertröstet Johara Jägers einen Besucher auf einen Termin in vier Stunden. Dann kann er wiederkommen und das Gerät des österreichischen Unternehmens Cyberith ausprobieren, für das sie hier Schlange stehen. Im Grunde ist es eine Plattform mit einer rutschigen Oberfläche. Ein Mann geht darauf, er trägt Überschuhe und natürlich eine VR-Brille, ohne die hier gar nichts geht. Er rutscht über die weiße Fläche, fängt an zu laufen, die Plattform hebt sich an einer Seite. Die Bewegungen des Mannes übertragen sich direkt in die virtuelle Welt. In diesem Fall in eine Fabrikhalle, in der es brennt. Der Mann läuft durch die Halle, öffnet Türen, sieht sich um, er sucht den Feuerlöscher - oder zumindest den Notausgang.

Im Sommer haben sie die ersten Geräte der neuen Generation ausgeliefert, sagt Johara Jägers. "Polizei, Militär und Feuerwehr trainieren damit. Sie können Einsätze immer wieder wiederholen und so optimieren", erklärt sie. Aber auch Spielhallen kauften das Gerät, Unis und Forschungseinrichtungen. Und Schlaganfallpatienten könnten damit wieder laufen lernen.

An einem anderen Stand führt ein Mann Brillen vor, die einen die echte Welt noch sehen lassen. Dafür kann sich jemand anderes in diese Brille einschalten, kann ihn über einen Bildschirm auf Dinge, die er sieht, aufmerksam machen. Er kann ihm über die Schulter schauen, ohne bei ihm zu sein. "Eine Möglichkeit, in Zeiten der Globalisierung und des Fachkräftemangels Wissen zu vermitteln", sagt Michael Nürnberg von Ama Xpert Eye.

Und wieder an einem anderen Stand zeigt das amerikanische Unternehmen Bebop Sensors seine Handschuhe. Sie erlauben es dem Träger, zu spüren, was er in der virtuellen Welt macht. Auf dem Bildschirm schlägt ein Herz. Greift man es - virtuell gesprochen - spürt man es schlagen. Die US Airforce benutze die Handschuhe, um ihre Leute darin zu trainieren, Flugzeuge zu reparieren, sagt CJ Wheelock. Mit einem Paar Handschuhe und einem Headset könne man das zu jeder Zeit üben, überall auf der Welt.

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Quelle:
SZ vom 18.10.2019
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