Süddeutsche Zeitung

Preisverleihung:Die vielen Seiten der Wirklichkeit

Markus Ostermair hat in seinem Roman "Der Sandler" den Alltag eines Obdachlosen beschrieben. In der Seidlvilla wird er dafür nun mit einiger Verspätung mit dem Tukan-Preis der Stadt München ausgezeichnet.

Von Antje Weber, München

Eigentlich möchte man die harte Wirklichkeit mal kurz aussperren in diesem Moment. Es fühlt sich geradezu unwirklich schön an auf der Terrasse der Seidlvilla in Schwabing - von sommerlichem Sonnenschein gewärmt, stehen dort zwei Dutzend Menschen aus Kultur und Stadtpolitik, die sich zum Teil länger nicht gesehen haben, im angeregten Geplauder. Sie nippen an Sektgläsern, greifen am Buffet zu einem der sorgsam bereiteten Sandwichs und Gläschen mit Gemüsesticks - es erinnert an nicht lang vergangene Zeiten, in denen solche Szenen im Münchner Kulturleben nicht ganz so ungewohnt wirkten.

Der Aufprall in einer anderen Wirklichkeit ist umso härter. Als man gegen Ende dieses Empfangs zur Tukan-Preisverleihung wieder die Maske aufgesetzt hat und in den Saal zurückgegangen ist, sitzt da der Preisträger Markus Ostermair und liest aus seinem soeben ausgezeichneten Roman "Der Sandler" (Osburg Verlag) das Kapitel "Boxenstopp in der Mission" vor. Es handelt davon, wie der Obdachlose Karl zum Münchner Bahnhof läuft und dort in der Mission an einer Theke wartet; die Mitarbeiter holen in den Bäckereien der Umgebung manchmal Übriggebliebenes und geben es hier an Bedürftige aus. Karl lässt sich ein Sandwich mit Käse geben und noch eins mit Schinken, für später. Dann geht er, "der nun alles hat, was er braucht", zurück auf die Straße. "Draußen ist es schon merklich kälter geworden."

Die Wirklichkeit besteht aus sehr unterschiedlichen Facetten; Markus Ostermair beschreibt in "Der Sandler" eine vielen unbekannte und nur selten beleuchtete: das alltägliche Leben eines Obdachlosen. Dafür hat er im vergangenen Jahr den Tukan-Preis der Stadt München für eine "sprachlich, formal und inhaltlich herausragende literarische Neuerscheinung" bekommen. Die Verleihung samt Lesung, die in der Regel im Dezember im Literaturhaus stattfindet, wird pandemiebedingt an diesem frühen Mittwoch-Abend in der Seidlvilla nachgeholt. Stadtrat Klaus Peter Rupp übergibt die Urkunde und freut sich, dass wenigstens in kleinem Rahmen gefeiert werden kann. Das Thema, das Ostermair in seinem Buch gewählt habe, sei ungewöhnlich, sagt er, Ostermair schreibe darüber "intelligent, gefühlsgenau und auf hohem literarischen Niveau". Und Rupp zitiert aus der Jurybegründung: Statt "die harte Realität in wohlfeilem Realismus auszustellen", evoziere Ostermair sie "in einer präzise gestalteten, an Döblin geschulten Sprache, die seine Figuren Würde gibt, ohne ihnen falschen Nähe aufzuzwingen, ohne zu urteilen oder zu verklären".

Nicht nur den Schriftsteller Döblin, sondern auch Dickens und Don Passos ruft der Literaturwissenschaftler Clemens Pornschlegel anschließend in seiner Laudatio auf, um die Sprache von Ostermairs Debütroman zu beschreiben. Es ist die zweite Laudatio, die Pornschlegel für diesen Anlass verfasst hat - da die erste aus Pandemie-Gründen schon vor Monaten ins Netz gestellt wurde, hat er sich nun noch einmal die Mühe einer zweiten gemacht. Darin würdigt er den Roman unter anderem als "ziemlich große Trainingseinheit" in Realitätswahrnehmung: "Wir blicken in den sozialen Abgrund, über dem wir alle sitzen, meine Damen und Herren." Die Wirklichkeit der Städte sei nicht einfach zu fassen, so Pornschlegel, durch die Literatur aber werde das "widerspenstig Reale" eines Alltags als Obdachloser "der Welt sagbar". Und als er anmerkt, nicht nur Obdachlose könnten über das Leben von Obdachlosen sprechen, klingen auch mal kurz die identitätspolitischen Debatten unserer Zeit an.

Markus Ostermair, so wird in seiner Dankesrede noch einmal deutlich, weiß jedenfalls, wovon er schreibt. Er hat vor Jahren nach seinem Zivildienst in der Münchner Bahnhofsmission "aus einem Gefühl des Mangels heraus" zu schreiben begonnen. Das, was er dort erlebt hatte, kam in der Literatur nur am Rande vor, so wurde ihm klar, "Obdachlose waren geschichtslose Nebenfiguren". Ostermair nun hat sie ins Zentrum gestellt, mitsamt ihrem Alltag auf der Straße, in dem sich die Tage gleichen und es scheinbar nichts zu erzählen gibt. Aus "Trotz" habe er gerade deshalb davon erzählen wollen, sagt er: "Literatur muss dorthin schauen, wo die Menschen verstummen, und nach Gründen dafür suchen."

Auch wenn in seinem Roman die Utopie einer gerechteren Welt aufscheinen mag, ist dem Autor doch bewusst, dass Obdachlose in unserer Gesellschaft "nach wie vor keine Stimme" haben. Sein Protagonist Karl besitzt irgendwann immerhin einen Schlüssel, den zu einer eigenen Wohnung. Ostermair liest am Ende noch das Kapitel vor, in dem Karl diese Wohnung zum ersten Mal betritt. "Nur ein kleiner Schritt", ist es überschrieben; ein kleiner Schritt, der ziemlich groß sein kann, wenn die Wirklichkeit für einen Menschen seit Jahren nur Härte bereithält.

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