München:Maritime Magie

Quint Buchholz hat "Das Meerbuch" illustriert, das in der erlesenen Reihe Insel-Bücherei erscheint

Von Udo Watter

Zwei schwimmende Kinder im delfinblauen Wasser. Sonnenstrahlen tauchen durch die Oberfläche hindurch und illuminieren noch die ersten Meter unter Wasser. Von dem Mädchen sieht man die strampelnden Beine und den vom Badeanzug umhüllten Oberkörper. Der Junge lässt sich bewegungslos gleiten, er hat den Kopf ins Wasser gesenkt und blickt nach unten. Wie weit er sehen kann, wissen wir nicht, aber der Betrachter des Bildes nimmt sie wahr, spürt sie, ahnt sie: die Abgründigkeit des Meeres, eine vertikale Uferlosigkeit, Le Grand Bleu, das große Blau, wie Luc Bessons Kultfilm "Im Rausch der Tiefe" über zwei Apnoe-Taucher und die Magie des Meeres im Original heißt.

Quint Buchholz hat dieses Bild, - das eines von vielen ist, mit welchen er das gerade erschienene "Meerbuch" (Insel Verlag) illustriert hat - so gezeichnet, dass man aus einer unteren Perspektive hoch zu den Schwimmern schaut. Farben und Stimmung sind heiter und mediterran, aber dennoch beschleichen einen ambivalente Empfindungen. Wie tief mag es wohl noch hinabgehen? Was ist da unten und wie dunkel ist es? "Der Mensch ist so klein in diesem riesigen Raum", sagt Buchholz, der seit vielen Jahren in Ottobrunn lebt. "Es ist ein Bild über die Zeit. Es ist nicht nur harmonisch und angenehm. Es deutet auch Dunkles an". Und fügt mit Blick auf die aktuelle Coronakrise hinzu: "Es zeigt auch, dass das, was wir mitkriegen, oft nur ein kleiner Teil ist."

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Und unter uns die Tiefe, das große Blau: Quint Buchholz hat für "Das Meerbuch" einen Bildessay erstellt.

(Foto: Buchholz/Insel Verlag)

Tja, wer möchte derzeit nicht gerne seine Siebensachen packen, über die sieben Weltmeere fahren und auf einer einsamen Insel stranden - fern von Virus und der Gretchenfrage nach genügend Klopapier? Das Meer ist ein Sehnsuchtsraum, der die Horizontsucht befeuert, und Buchholz, einer der bekanntesten Illustratoren des Landes und ein Virtuose der Blautöne, kennt seine Stimmungen und Lichteinflüsse nur allzu gut.

"Das Meerbuch" ist im März in der edel gestalteten Reihe "Insel-Bücherei" erschienen, eine Sammlung von Texten und Bildern zum Mythos Meer, zusammengestellt von Matthias Reiner und illustriert von Quint Buchholz. Für den Maler und Autor aus Ottobrunn, der sein Atelier in München-Haidhausen hat, war die Arbeit daran eine besonders erfüllende. "Ich habe schon lange gehofft, dass ich für diese Reihe was machen kann." Als er Reiner, den Betreuer der Reihe, die es seit 1912 gibt, und Leiter der Bildredaktion beim Suhrkamp/Insel Verlag, "Meer" als Thema vorschlug, war der zunächst nicht so begeistert. Nach einem Ostsee-Aufenthalt änderte Reiner seine Meinung und das gemeinsame Buchprojekt lichtete die Anker. Schön für Buchholz: Er war diesmal in seinen Illustrationen thematisch nicht so sehr an die ausgewählten Texte - von Platons "Atlantis" über Sindbads Seereisen und Gedichte Goethes bis zu Judith Schalanskys "Nichts" aus dem "Atlas der abgelegenen Inseln" - gebunden.

"Matthias Reiner wollte von mir einfach, dass ich ein Bildessay zum Thema Meer schaffe." Eine Aufgabe, die viele Freiheiten mit sich brachte. Buchholz, der ebenfalls die Ostsee liebt, malte in seinem fotorealistischen Stil, dem eine unaufdringliche Magie innewohnt, diesmal auch Werke, die von besonderer Ruhe und Zeitlosigkeit geprägt sind: Einen Fjord, der im Nebel verschwindet etwa oder eine sanft daherwogende Wellenfront, in der kein anderes Motiv stört. Die Augen können eintauchen und ruhen. "Das sind reine Wasser- oder Meerbilder", sagt der vielfach ausgezeichnete Illustrator, der 1993 mit der Gestaltung des Buchcovers von Jostein Gaarders Weltbestseller "Sofies Welt" den internationalen Durchbruch schaffte.

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Er erzählt Geschichten oder aber lässt das Auge kontemplativ ruhen.

(Foto: Buchholz/Insel Verlag)

Nicht nur die Vielfalt der Blautöne, sondern auch der schnelle Wechsel der Farben und Stimmungen, der sich dem Blick des aufmerksamen Beobachters am Meer eröffnen kann, begeistert Buchholz. Natürlich versammelt das Büchlein auch Bilder, welche die Tür zu Erzählungen öffnen, dem Rezipienten Raum geben, narrative Vorstellungen zu entfalten - etwa ein Mann, der bei kühlem Wetter am Sandstrand mit einem Schirm entlang spaziert: Hat er sich gerade mit seiner Frau gestritten und nun das Usedomer Ferienhaus verlassen? Genießt er die diffuse Melancholie? Schön auch das große Porträt einer Möwe, die vor heiterem Abendhimmel ein wenig mysteriös nach vorne starrt.

Die Geschichten, die Reiner ausgewählt hat, sind entsprechend lesenswert. Neben den bereits erwähnten gibt es schöne Gedichte wie "Die Insel" von Rose Ausländer: "Fische besuchen mich und sprechen Gedichte, ich bemühe mich sie zu erlernen, ein Delfin bringt mir Grüße von Freunden, sie laden mich ein, allein ich kann nicht schwimmen." Poetisches findet man zudem von Emily Dickinson, Marie Luise Kaschnitz oder Paul Celan. Überdies Passagen aus Thomas Manns "Buddenbrooks", Lutz Seilers "Kruso", Thomas Morus' "Utopia" oder ein philosophischer Dialog des auktorialen Ichs von Cees Nooteboom mit Poseidon. Es geht um verlorene Inseln, Schiffsreisen, gutbürgerliche Strandurlaube, Romantik und maritime Melancholie.

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Nicht nicht nur Vielfalt und Facetten seiner bevorzugten Farbe entfaltet er in dem Buch.

(Foto: Buchholz/Insel Verlag)

Für Buchholz ist das Meer ein Ort, an dem man auf das rechte Maß schrumpft: "Eine gute Demut" empfinde man ob einer überwältigenden und mitunter erschreckenden Erhabenheit. Für einen wie Buchholz, der das Glück der Langsamkeit schätzt, der falsche Bedeutsamkeiten hinterfragt, gibt es wenig Schöneres als lange, einsame Strandspaziergänge: Die Kunst, mit sich allein zu sein, die Kunst zu beobachten, Augenblicke zu sammeln. "Das Meer ist natürlich ein Dauerthema bei mir." Mitunter weckt und umspült es freilich Versprechungen, die vielleicht zu schön sind, um wahr zu werden. So beschreibt Thomas Mann ein Tête-à-Tête von Tony Buddenbrook und Morten Schwarzkopf in Travemünde - das schmerzt, wenn der Leser weiß, wie es weiterging: "Sie schwiegen lange, indes das Meer ruhig und schwerfällig zu ihnen heraufrauschte ... und Tony glaubte plötzlich einig zu sein mit Morten in einem großen, unbestimmten, ahnungsvollen und sehnsüchtigen Verständnis dessen, was "Freiheit" bedeutete."

Das Meerbuch. Illustriert von Quint Buchholz. Insel Verlag, Berlin, 2020

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