Süddeutsche Zeitung

Münchner Momente:Auch Bäume haben Träume

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Früher gab es für einen Nadelbaum keine größere Ehre, als im Advent auf dem Marienplatz zu stehen. Doch heute haben junge Tannen und Fichten andere Ziele.

Glosse von Stefan Simon

In der Baumschule, da haben die Kleinen noch Träume. Fragt man die Setzlinge, was sie einmal werden möchten, geben die meisten zur Antwort: ein Wald. Klar, sie wollen einfach am liebsten für immer bei den Hasen, Rehen und Vögeln sein. Sie würden im Mycelnetzwerk der Pilze vom neuesten Klatsch über Herrn Kauz erfahren und auch alle Neuigkeiten, die Frau Fuchs von früh bis spät zusammenträgt. Was will man mehr?

Sie stellen es sich lustig vor, wie sie als großer Baum einmal Spaziergänger mit Blättern, Zapfen und Zweigen bewerfen. Aber in manchen Samen reifen auch größere Wünsche. Manche möchten schon als winzig kleiner Trieb ein Designermöbel werden, andere ein Holzhaus, eine Brücke oder gleich der Chinesische Turm.

Nur Christbaum auf dem Münchner Marienplatz, das will keiner mehr werden. Da sind sie selbst bei der Baumberufsberatung inzwischen ein bisschen nervös. Die Alten im Forst erinnern sich gut an die vergangenen Zeiten. Da gab es für einen Nadelbaum keine größere Ehre, als den Platz zwischen Rathaus und Christkindlmarkt einzunehmen. Einer ihrer großen Dichter fand dafür stimmungsvolle Worte: "Und was jüngst noch, fern und nah, / Bunt auf uns herniedersah, / Weiß sind Türme, Dächer, Zweige, / Und das Jahr geht auf die Neige, / Und das schönste Fest ist da."

Na, erkannt? Das ist unverkennbar Theodor von Tanne (auch wenn die Menschen später so taten, als seien die Zeilen einem von ihnen eingefallen, der rein zufällig so ähnlich heißt). Wie herrlich: Alle freuen sich auf Weihnachten, und mitten in der Stadt steht ein mächtiger Baum, umgeben von Buden und Menschen, erleuchtet von Hunderten Lampen, und freut sich einfach mit. So war's einmal, so schön.

Wie cringe ist das denn, fragen sich die jungen Tannen und Fichten. Was soll man wurzelseelenallein auf dem riesigen Platz, wenn da sonst nix ist? Im Mycelnetzwerk haben sie von diesem Virus gehört, dass jetzt alles abgesagt ist und der Rest verboten.

Keine Bude, keine Bratwurst, nicht einmal ein Glühweinrausch: Wer steht da schon gern im Mittelpunkt? Und, mal ehrlich: Die Aussicht, anschließend noch eine Karriere als Maibaum zu machen, ist auch nicht so verlockend. Sich ausziehen und anmalen lassen, das ist vielleicht etwas für Menschen, aber doch nicht für einen Baum!

Am besten versteckt man sich ganz tief im Wald und betet zum Christkind, dass man eines Tages als Holzeisenbahn verschenkt wird.

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