"Runter von der Bühne" fordert das Transparent. Ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert, Buhrufe und Sprechchöre unterstreichen die Forderung. "Gemeinsam Zukunft gestalten!" ist die Kundgebung der Münchner Gewerkschaften an diesem 1. Mai auf dem Marienplatz überschrieben. Doch am Grußwort des Münchner Oberbürgermeisters Dieter Reiter (SPD) scheiden sich die linken Geister. "Hoch die internationale Solidarität!" wird skandiert, später auch von der Bühne herab. Doch mit der Solidarität innerhalb der Arbeiterbewegung ist es anscheinend nicht weit her an diesem 1. Mai im Zeichen des Ukraine-Krieges.
Den SPD-Politiker Reiter haben an diesem Tage gleich mehrere Gruppen unter den Tausenden Menschen vor dem Rathaus als Feindbild ausgemacht: Linksradikale, die wieder einen Anlass sehen, den alten Sprechchor "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!" anzustimmen; Gegner der Waffenlieferungen an die Ukraine; aber auch Gewerkschafter, die den Rathauschef in der Vergangenheit als Arbeitgeber erlebt haben, der sich "unsolidarisch" gegenüber gewerkschaftlich aktiven städtischen Beschäftigten verhalten habe. "Mir ist", sagt Reiter, "bezahlbares Wohnen das wichtigste Thema in dieser Stadt." - "Hau ab!" schallt es ihm entgegen.
Rund um die Mariensäule bringt sich die Polizei in Stellung
Kaum jemand in den hinteren Reihen - dort, wo die Proteste am lautesten sind, wo Trillerpfeifen und ein Megafon zum Einsatz kommen, wo sich schließlich sogar Polizistinnen und Polizisten rund um die Mariensäule in Stellung bringen - dürfte mitbekommen, dass Reiter an diesem Sonntagmittag eine konkrete Initiative der Münchner SPD für einen schon länger diskutierten Münchner Mindestlohn ankündigt. Der jetzt durchgesetzte Mindestlohn von zwölf Euro, sagt Reiter, werde für viele in der Stadt nicht reichen, "eben weil die Lebenshaltungskosten in München deutlich höher sind als in vielen anderen deutschen Städten". Die Münchner SPD werde deshalb "eine Initiative starten und zum Dialog einladen für einen armutsfesten Lohn in München".
Laut SPD wird dazu derzeit ein Antrag erarbeitet. "Die Ankündigung des Oberbürgermeisters zu ersten Gesprächen und ein Vorstoß im Stadtrat sind der richtige Weg", so der Münchner SPD-Vorsitzende Christian Köning in einer noch während der Kundgebung verbreiteten Stellungnahme. "Angesichts der Preissteigerungen der vergangenen Wochen ist das jetzt besonders dringlich. Arbeit muss sich lohnen und alle Münchner müssen sich ihr Leben auch leisten können."
"München ist eine hochpolitische Stadt", konstatiert der als Hauptredner geladene Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Guido Zeitler. Auch er widmet sich dem alles beherrschenden Thema dieses Tages - dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und bezeichnet ihn als "Angriff auf unsere Lebensweise, auf Europa" und als "Akt des aggressiven Nationalismus". Auch das sehen Anhänger mehrerer Gruppen vom linken Rand anders: Sie fordern auf Transparenten "Streiks gegen Waffenlieferungen", "Krieg dem deutschen Krieg", sie betrachten den "deutschen Imperialismus" als "Hauptfeind".
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Buhrufe kommen auch, als die junge Gewerkschafterin Adriana Bil Waffen als militärische Hilfe zur Selbstverteidigung für das Heimatland ihrer ukrainischen Eltern fordert. Ihr Nachname, so die junge Frau, bedeute "Schmerz". Und sie sagt: "Noch nie in meinem Leben habe ich mich mit diesem Namen so identifiziert wie gerade." Wenn Putin jetzt Erfolg habe, werde er immer weiter machen. "Das dürfen wir nicht zulassen." - "So ein Schmarrn!", schreit ein Mann mit roter Gewerkschaftskappe dazwischen. Ein anderer herrscht ihn an, er solle ruhig sein, fegt ihm die Kappe vom Kopf. Kampftag der Arbeiterklasse?
Diskutiert, gestritten, auch lautstark, wird viel an diesem 1. Mai in München. Wie sehr die Diskussion um Krieg, Verteidigung und Rüstung die Menschen umtreibt, wird auch beim gemeinsamen Auftritt aller Münchner Gewerkschaftsvorsitzenden deutlich. "Gegen Krieg!" steht auf ihrem Transparent. "Für Frieden und Solidarität". Wie das zu schaffen ist? Auch da haben viele Kundgebungsteilnehmer sehr unterschiedliche Vorstellungen: Schröder raus - aus der SPD, fordert der eine. Deutschland raus - aus der Nato, fordert der andere. Und beide tun das auf derselben Maikundgebung.