Süddeutsche Zeitung

Chronik zum Luisengymnasium:"Schwäche zeigen, ja, aber Schwächling sein, nein"

Horst Rückert arbeitete einst als Lehrer am ältesten städtischen Gymnasium Münchens. Seine 200-Jahr-Chronik der Schule zeigt, wie sich die Landeshauptstadt und die Bildungspolitik über zwei Jahrhunderte verändert haben.

Von Sabine Buchwald

14 Jahre war Horst Rückert am Luisengymnasium. Von 1979 bis 1990 als Lehrer und noch einmal von 2009 bis 2012 als "Mitarbeiter im Direktorat". Jahre, an die er sich gerne zurückerinnert. "Bis heute fühle ich mich dem Luisen tief verbunden", sagt der 72-Jährige.

Manch ehemalige Schülerinnen und Schüler mögen ihre Schulzeit vielleicht anders empfunden haben und die flammend roten Blätter an den Mauern des großen Gebäudes in Richtung Hauptbahnhof als warnende Zeichen sehen. Schweißnasse Hände vor Prüfungen, schlechte Zensuren, blaue Briefe? Viele junge Menschen haben hier in den vergangenen 200 Jahren mehr oder weniger gelitten, wohl aber auch Freude empfunden, hier lernen zu dürfen. Besonders in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung im Jahr 1822 war das wohl so, als die Schule noch "Höheren Töchtern" vorbehalten war und eine Möglichkeit, der häuslichen Langeweile zu entkommen. Zu einer Schule mit Gymnasialzweig wurde sie erst nach "einer Verfügung des Magistrats vom 8. November 1911", wie Horst Rückert in seinem Buch über die Geschichte der Schule schreibt.

Rückert kennt sie als Mitglied des Lehrerkollegiums. Er selbst ist in der Nähe von Nürnberg aufgewachsen. Nach München kam er 1969 zum Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität. Just in dem Jahr als das Luisengymnasium zu seinen Mädchen erstmals Jungs aufnahm.

Spricht man mit Rückert über seinen Beruf als Lehrer, hört man schnell heraus, wie gern er unterrichtet und mit Kindern und Jugendlichen zusammen ist. "Man muss sie mögen und ihnen vorleben, was man verlangt", sagt er. "Schüler brauchen zehn Minuten, dann wissen sie, wen sie vor sich haben." Fachkompetent, das müsse man sein, aber Fehler dürfe man zugeben. "Schwäche zeigen, ja, aber Schwächling sein, nein." Über seine Zeit am Luisengymnasium resümiert er: "An dieser Schule hat sich für mich ein Kreis geschlossen, hier habe ich als Lehrer begonnen und meine Laufbahn beendet."

Es sind viele positive Gefühle, die der ehemalige Lehrer für Deutsch und Geschichte mit Münchens ältestem städtischen Gymnasium verbindet. Eine gute Voraussetzung für den Auftrag, sich mit der Historie der Schule zu beschäftigen. Als Rückert im Herbst 2019 von Oberstufenkoordinatorin Mareile Müller gefragt wurde, ob er zum anstehenden 200. Geburtstag eine Chronik schreiben könnte, hat er gerne eingewilligt.

"Das Luisen" so heißt die Schule umgangssprachlich. Und so heißt auch das Buch, das Rückert Anfang des Jahres rechtzeitig fertigbrachte. Es ist mehr als 430 Seiten dick, mit Fußnoten, Literaturverzeichnis, historischen Abbildungen, Bildnachweisen und Danksagungen versehen. Es ist die Arbeit eines promovierten Historikers, der gerne schreibt und Spaß hat, in Archiven zu forschen, der weiß, was man rauslesen kann aus Schülerlisten, Personalakten und Jahresberichten.

Horst Rückert empfängt bei sich zu Hause in Moosach. Hier lebt er mit seiner Frau. Die Tochter, eine Medizinerin, der Sohn, Schauspieler von Beruf, wohnen längst nicht mehr zu Hause. Rückert engagiert sich im Moosacher Geschichtsverein. Er ist dort Schriftführer, organisiert Führungen und Veranstaltungen im Stadtviertel. Moosach sei ein guter Stadtteil, er fühle sich wohl hier, sagt Rückert.

Das Gespräch findet auf der kleinen Terrasse vor dem Wohnzimmer statt. Corona-bedingt. Die Arbeit an dem Buch habe ihn gut durch die Pandemie gebracht, sagt Rückert. Mit der Recherche hat er Ende 2019 begonnen, ab Ostern 2021 dann geschrieben. "Ehrenamtlich", also unentgeltlich. "Was hätte ich verlangen sollen? Es sind Hunderte von Stunden in diese Arbeit geflossen." Der Studiengenossenverband des Luisengymnasiums, der das Buch herausgegeben hat, hätte das nie bezahlen können. Erschienen ist das Buch juristisch gesehen im Selbstverlag. Die gute Verbindung zu dem Verleger Jonathan Beck, der in den Neunzigerjahren auf dem Luisen war, hat dafür gesorgt, dass es professionell lektoriert, gesetzt und gedruckt worden ist. Verkauft wird es über den Studiengenossenverband am Gymnasium.

Das Buch ist chronologisch aufgebaut, "weil sich das so angeboten hat", wie Rückert erklärt. So beginnt das erste Kapitel mit einem für die Schule wichtigen Datum im Jahr 1822. Am 27. November des Gründungsjahres sei im "Königlich-Baierischen Polizey-Anzeiger von München" eine "Bekanntmachung" über eine am "2.12.1822 bevorstehende Eröffnung der Höheren Töchterschule" erschienen, schreibt der Autor.

Die Bedingungen für eine Aufnahme an der Schule waren: ein Mindestalter von zwölf Jahren, drei Klassen der Elementarschule, eine Aufnahmeprüfung und Eltern, die ein Schulgeld von monatlich einem "Baiernthaler" aufbringen konnten. Der Ursprung des heutigen koedukativen Gymnasiums (mit sprachlichem und musischem Zweig) in der Maxvorstadt war eine Schule für Mädchen aus besser gestellten Familien. Sie sollten hier vorbereitet werden "zum Eintritt in das bürgerliche Leben", vor allem aber die Zeit sinnvoll überbrücken, bis sie sich verheirateten.

Die Initiative der Schulgründung geht auf Simon Spitzweg zurück, Vater von drei Söhnen, unter anderem des Münchner Malers Carl Spitzweg. Am 10. Dezember 1822 hatte der erste Unterricht in den Räumen des Schulhauses am Kreuz stattgefunden. Der Schulabschluss berechtigte die Absolventinnen zu keiner weiterführenden Ausbildung. Und doch: "Hatte ein Mädchen die Schule erfolgreich absolviert und, wie sehnlichst erhofft, geheiratet, so war sie nicht nur eine geschickte Haushälterin und sittenfeste Erzieherin, sie war darüber hinaus ein gebildetes Schmuckstück an der Seite ihres Gatten", fasst Rückert zusammen. "Sie war imstande, den französisch geführten Gesprächen der Männer aufmerksam zu folgen, während sie im Hintergrund still stickte, strickte und nähte (...)." Denn ein wesentlicher Inhalt des Lehrplans war anfangs Handarbeiten in Verbindung mit Französisch. Seit 2009 gibt es am Luisengymnasium "Pädagogisches Kochen": Schülerinnen und Schüler kümmern sich unter Anleitung eines Kochs um das Mittagessen für ihre Mitschüler. Französisch wird dabei wohl nicht parliert, vielleicht manchmal geflucht, wenn etwa eine Soße verklumpt.

Die Schule hat in den vergangenen 200 Jahren viele Wandlungen erfahren. Sie war stets eine weltliche Schule, also nicht von Patern oder Klosterschwestern geführt, und stand Protestantinnen und Jüdinnen offen. "Sie war immer eine Schule ihrer Zeit. Man findet stets die gesellschaftlichen Erwartungen und politischen Vorgaben", resümiert Horst Rückert. In den 1870er-Jahren etwa zeigten sich erste pädagogische und organisatorische Probleme, Glaubens- und Sitten-Fragen wurden Thema, der Ruf nach tiefergehender Bildung der Mädchen wurde lauter.

München hatte 1822 etwa 40 000 Einwohner, 50 Jahre später schon um die 170 000. Die Schule aber wuchs nicht gleichermaßen mit. Die Zahl der Schülerinnen war von anfangs 80, 1871 nur auf 129 gestiegen. Erst in den Jahren danach veränderte sich die Schule im großen Stil. Im Oktober 1901 zogen Lehrer und Schüler in das nach den Plänen von Architekt Theodor Fischer neugebaute Schulhaus an der Luisenstraße 7. Der Name erinnert an Prinzessin Ludovika Wilhelmine von Bayern, die Mutter der ungleich berühmteren Kaiserin Sisi.

Rückerts Buch liest sich auch deshalb so spannend, weil er die Geschehnisse an der Schule in historische Zusammenhänge bringt. Wenn er auf ausreichend Material stieß, wie etwa über die Lehrerin Anna Freund, dann wird er ausführlich. Freund hatte sich vehement für Frauenbildung eingesetzt. "Das gesunde und begabte Mädchen will lernen" und könne das so gut wie Jungen, wenn nur die Bedingungen stimmten, zitiert Rückert sie aus Schriftstücken ihres Nachlasses.

Wichtige Quellen waren für ihn neben Briefen und Postkarten die Personalakten, sogenannte Visitationsberichte aus dem Ministerium und besonders die Jahresberichte der Schulleiter, die im Münchner Stadtarchiv aufbewahrt werden. Handschriftlich verfasst, mit teilweise persönlichen Anmerkungen versehen, offenbarten sich dem Historiker viele Interna. Die Schule selbst verfügt über ein Archiv, "teilweise noch recht ungeordnet." In den vergangenen Jahren haben einige Lehrer in Oberstufen-Seminaren mit ihren Schülern etwas Licht in die Kartons gebracht. Mareile Müller würde gerne eine Dauerausstellung damit bestücken. Allein, es fehlen Kraft und Geld dafür.

Wie jede Chronik der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland, muss sich auch die Geschichte des Luisengymnasiums mit Antisemitismus und dem Verhältnis zum Nationalsozialismus auseinandersetzen. Rückert erzählt von den Zitaten des Direktors Hans Winter (1886 bis 1921), die von Schwierigkeiten der jüdischen Schülerinnen zeugen. Schulleiter Hans Jobst (1927 bis 1941) hatte in Stenoschrift vermerkt, welcher Lehrer Mitglied der NSDAP war. Für die positive Benotung von Jüdinnen habe er sogar ein Disziplinarverfahren bekommen, fand Rückert heraus. Nach außen sei das Luisen eine NS-Schule gewesen, aber die Schulleiter hätten viel zugelassen. "Es war aber keine Widerstandsschule. Eine Sophie Scholl gab es dort nicht."

Bei der Recherche und beim Schreiben habe er sich immer wieder die Frage gestellt: "Wie können hochgebildete Humanisten Nazis gewesen sein?" Er kriege das nicht in seinen Kopf, sagt Rückert. Einer der schönsten Momente war für ihn der Kontakt zu einer Frau in den USA. Sie habe an die Schulleitung geschrieben, weil sie erfahren wollte, warum ihre jüdische Mutter damals von München in die Schweiz gegangen sei - rechtzeitig. "They helped to protect my family from the ultimate horror." Der ultimative Schrecken. Dieser Satz der Tochter hat sich in Rückerts Kopf eingebrannt. Der Historiker wird sehr ernst als er auf diese Geschichte zu sprechen kommt.

Ernste Themen, er sucht sie sich, oder vielleicht finden sie ihn. 1990 ist Rückert nach Lima an eine deutsche Schule gegangen. "Ich wollte etwas anderes machen." Acht Jahre war er dort mit der Familie. Wieder zurück und nach ein paar Jahren am Bertolt-Brecht-Gymnasium in Pasing, hat es ihn dann nochmal nach Südamerika gezogen. Von 2003 bis 2009 leitete er eine deutsche Schule in Chile. "Ich muss viel länger arbeiten, als ich jemals in Deutschland arbeiten musste. Es ist sehr anstrengend und aufregend, weil es sehr wenige Vorgaben gibt", erzählte Rückert 2007 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Chile und eines seiner dunklen Kapitel hat Rückert nach seiner Pensionierung aufgearbeitet. Erst in seinem Buch "Von der Colonia Dignidad zur Villa Baviera", dann in einer Doktorarbeit. Und jetzt? Gibt Rückert Deutschnachhilfe in einer Berufsschule. Er ist ein leidenschaftlicher Lehrer.

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