Die Musik ist ihnen geblieben. Doch sonst besitzen sie nichts mehr. Die 50 Männer und Frauen, die andächtig der jungen Frau zuhören, die in der Matthäuskirche ein rumänisches Kirchenlied anstimmt, leben in München meist auf der Straße. Sie versuchen, mit harten und meist schlecht bezahlten Jobs ein wenig Geld zu verdienen, um es in ihre Heimat nach Bulgarien oder Rumänien zu schicken. Da ist zum Beispiel das bulgarische Ehepaar, das seit sieben Jahren in München lebt. "Ich vermisse meine Kinder so sehr", sagt die Frau. Doch sie und ihr Mann mussten sie bei der Großmutter zurücklassen, weil es keine Arbeit gab.
Jahrelang haben die beiden auf der Straße geschlafen, mittlerweile übernachtet das Paar im Kälteschutz der Bayernkaserne, der seit diesem Jahr ganzjährig für Obdachlose geöffnet hat. Für die beiden Bulgaren ist das kostenlose Übernachtungsangebot natürlich eine Hilfe, trotzdem wünschen sie sich wie viele andere, die dort schlafen, eine Ausweitung des Angebots. "Wir müssen spätestens um sieben Uhr dort raus, egal ob es regnet oder schneit", sagt der Mann. Erst um 17 Uhr öffnet die städtische Einrichtung wieder. Für viele Arbeitsmigranten sind die Öffnungszeiten nutzlos, weil sie nachts arbeiten und tagsüber schlafen müssen.
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Felizitas Schmitz kümmert sich insbesondere um Familien, die ihre Wohnung verloren haben. Weil immer mehr Menschen aus Osteuropa kommen, fällt die Verständigung oft sehr schwer.
"Dies sind Menschen, die versuchen, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen. Sie haben alle Unterstützung verdient", sagt Bürgermeisterin Christine Strobl. Die SPD-Politikerin hat die Schirmherrschaft über ein Ausstellungs- und Begegnungsprojekt übernommen, das derzeit in der Matthäuskirche am Nußbaumpark stattfindet. "Heimat Straße - Neue Nachbarn" heißt die Aktion von Regsam, Evangelischer Stadtakademie und Arbeiterwohlfahrt. Einige der Betroffenen übernachten in der Grünanlage zwischen Lindwurm- und Nußbaumstraße und wollen den Münchnern anhand von Fotos und Erzählungen erklären, weshalb sie auf der Straße schlafen müssen, weshalb sie als letzte Zuflucht nach München gekommen sind, um hier zu überleben - als EU-Bürger.
Da ist zum Beispiel Stefan Yankov. Ein Vierteljahrhundert hat der Bulgare einen festen Beruf in seiner Heimat gehabt, dann schloss die Firma, Yankov fand keinen Job mehr. Seit zwei Jahren versucht er nun in München über die Runden zu kommen. Und er hat sogar einen Job als Parkpfleger. Allerdings muss er deshalb oft um zwei oder drei Uhr nachts aufstehen. "Wenn ich dann von der Arbeit komme, bin ich müde, aber muss dann auf der Straße leben", sagt er. "Damit geht es mir nicht gut. Ich möchte doch auch wie alle anderen einen Platz haben, ich zahle doch auch Steuern." Auch er wünscht sich, dass er tagsüber in die Bayernkaserne kann, um sich auszuruhen. Aber das lehnt die Stadt bislang ebenso ab wie eigene Zimmer für Ehepaare. Yankov, der mit orangefarbener Warnweste und seiner Arbeitskleidung in der Matthäuskirche steht, weiß nicht, wie lange er die prekäre Situation aushält. "Meine Kraft geht zu Ende", sagt er.
Christine Strobl kennt die Problematik. Doch auch der Stadt sind oftmals die Hände gebunden. Wegen der EU-Freizügigkeit können Europäer zwar jederzeit problemlos in einem anderen EU-Staat arbeiten, doch soziale Unterstützung erhalten sie zunächst nicht. Es ist ein Teufelskreis: Sie bräuchten eine Wohnung, um einen regulären Arbeitsplatz zu bekommen. Doch die finden sie meist nicht. Und Hilfe von Arbeitsagentur oder Sozialreferat erhalten sie erst nach langer Zeit und wenn sie überhaupt hier gemeldet sind. Das sei ein europäisches Problem und liege nicht an München, sagt Strobl. Deshalb appelliert sie: "Wir brauchen in der EU einen sozialen Zusammenhalt." Denn auch die Menschen, die auf der Straße schlafen müssen, "sind Münchnerinnen und Münchner, die in dieser Stadt leben können sollen".
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Die Obdachlosenunterkunft in der Kyreinstraße ist für viele Männer so etwas wie die letzte Chance. Sie bekommen dort ein Zimmer und jemanden zum Reden, sogar nachts.
Wie trostlos der Alltag der Menschen ohne ein Dach über dem Kopf sein kann, zeigt die kleine Ausstellung noch bis 4. Oktober in der Matthäuskirche. Die Obdachlosen erhielten Einwegkameras und fotografierten ihren Blick auf München. Die Bilder zeigen meist Tristesse oder schlicht nackte Armut: zwei ausgestreckte leere Hände; die Tür zum Kälteschutz, Männer rauchen in der Dunkelheit unter dem Schriftzug "Eingang Ost 1"; ein schlafender Mann in einem Treppenaufgang, die Schuhe stehen ordentlich neben dem Kopf; die Landwehrstraße als Symbol für den Ort, an dem es hin und wieder Jobs auf dem grauen Arbeitsmarkt gibt.
Manche der Menschen, die einst auf gut Glück nach München gekommen sind, haben es dennoch geschafft, von der Straße wegzukommen. Wie die Frau, die seit zwölf Jahren in München lebt. Lange Zeit hat sie im Freien geschlafen. Doch jetzt hat sie einen festen Job in einem Pflegeheim gefunden, ein Zimmer bekommt sie dort auch gestellt. "Ich freue mich so sehr, dass ich nicht mehr auf der Straße schlafen muss", sagt sie. Die Männer und Frauen, die bisher weniger Glück gehabt haben, applaudieren ihr. Dann wird getanzt und dazu geklatscht in der Kirche - und auch gelacht. Für einen kurzen Moment ist dieser Ort vielleicht ein Stück Heimat.
An diesem Montag gibt es im Rahmen des Projekts eine weitere Ausstellung mit Fotografien von Marie Lie-Steiner in der Evangelischen Stadtakademie (Herzog-Wilhelm-Straße 24, 18 Uhr). Sie hat Wanderarbeiter aus Rumänien und Bulgarien porträtiert. Im Anschluss gibt es ein Podiumsgespräch zum Thema "Zwischen Schutz und Freiheit - Übernachtungsschutz statt Campieren?"