Womit identifizieren sich junge Menschen? Über diese Frage haben sich Politiker bereits den Kopf zerbrochen, getrieben von dem Gedanken, „die Jungen“ irgendwie dazu zu bringen, das Kreuz auf dem Wahlzettel hinter ihren Namen zu machen. Und so lassen sich Abgeordnete für peinliche Tanzvideos filmen oder versuchen in Interviews, jetzt aber mal wirklich lässig zu sein und mit Vokabeln wie „Digga“ oder „Bubatz“ die Sprache der Jugend zu sprechen. Leider wird das meistens ziemlich – und hier passt ein Jugendwort – „cringe“.
Wie es gehen kann, zeigt den Herren und Damen in Anzug und Kostüm Lostboi Lino. Der hat bislang weder Maskendeals noch Cum-Ex-Geschäfte eingefädelt, sondern eine Ausbildung zum Mechatroniker gemacht. Und singt Zeilen wie „Leb’ in einer Wohnung, die mir nicht gehört“. Ein mieser Mietmarkt, der es schwierig macht, überhaupt eine Bleibe zu finden und imperialistische Immobilienhaie, die den Traum vom Eigenheim so unrealistisch erscheinen lassen, wie Bier auf Hawaii in den Sechzigern – das sind doch die Wirklichkeiten, mit denen sich junge Leute heutzutage auseinandersetzen müssen!
Ist Lostboi Lino, dieser musikalische Grenzgänger zwischen Rap, Indie und Rock, also die neue künstlerisch-politische Stimme der Gen Z? Vielleicht ist das etwas zu dick aufgetragen, das Lied „Ich glaub’ dir (nicht)“, aus dem die Zeile mit der fremden Wohnung stammt, handelt gar nicht vom wilden Wohnungsmarkt, sondern von Trennungsschmerz und dem Gefühl, sich selbst fremd zu sein.
Gleichzeitig widmet sich Lostboi Lino immer wieder auch Gesellschaft und Politik. Auf seinem Debütalbum „Lost Tape“ hat er mit „Männer 2.0“ den Klassiker von Herbert Grönemeyer neu vertont und sich dabei mit dem Männerbild der Gegenwart beschäftigt, das wie so viele gesellschaftliche Ideale mitunter abstruse Züge trägt. Gleichzeitig geht es bei Lostboi Lino sehr persönlich zu, geht es in dem Album doch auch um seinen verstorbenen Bruder.
Überhaupt spielen menschliche Gefühle in all ihren Ausprägungen eine große Rolle: Liebe, Verlust, die Suche nach sich selbst. Um diese großen Gefühle greifbar zu machen, illustriert sie Lostboi Lino gerne mit kleinen Dingen wie dem letzten Blick zurück, bevor etwas für immer zu Ende geht.
Um das glaubwürdig rüberzubringen, muss einem das Publikum all diese Gefühle abkaufen. Lostboi Lino gelingt das nicht nur durch seinen Namen, der ein gewisses Herumirren im Leben impliziert. Denn der „verlorene Junge“ hat auch noch die dazu passende, vom Leben angeraute Stimme. Die Mischung aus Melancholie und Wut, Rap, Rock und allem Möglichem hat dafür gesorgt, dass seine Songs zuverlässig sechs- bis achtstellige Streamingzahlen erreichen und er nach seinem zweiten Album „Phase“ soeben seine neue EP „Von Liebe …“ auf den Markt geworfen hat. Darin hat Lostboi Lino alte Tagebucheinträge vertont – es bleibt also persönlich.
Dass er sich in so vielen Genres bedient, spiegelt sich auch live wider. Auf seinen Shows treffen sich Jung und Alt, Rap-Fans und Punkheads. „Ich merke, dass bei meinen Konzerten wirklich alles dabei ist“, hat Lostboi Lino kürzlich in einem Interview mit dem Frontstage Magazine erzählt. Vor allem werden es nun, bei seiner ersten großen Tour, deutlich mehr Fans kommen als bislang, was dem Künstler neue Möglichkeiten bietet – unter anderem eine größere Live-Band. „Das macht es lebendiger“, hofft Lostboi Lino. Ob das gelingt, lässt sich demnächst im Muffatwerk beurteilen. Junge Menschen dürfte der Rap-Rocker dabei mehr abholen als so mancher Redner im Bundestag.

