Die Apokalypse sah vor einem Jahr so aus, dass erst das Klopapier knapp wurde und dann die Hefe. Das fanden manche Münchner schon so erschreckend, dass sie zu Hamsterkäufen antraten. Dabei hätte es ja auch noch viel schlimmer kommen können. Wenn zum Beispiel die Lieferketten für Lebensmittel zusammengebrochen wären, was im Katastrophenfall ja gut sein kann. Wie lange wäre München dann mit Essen und Getränken versorgt gewesen?
So zwei bis drei Tage, sagt Wilfried Bommert vom privaten Institut für Welternährung in Berlin, das sei so die Faustregel in Deutschland. "Wir kommen mit unserer Ernährung über keine Krise", stellte er schon vor Jahren fest, und das sei eigentlich in allen großen deutschen Städten so. Nahezu die gesamten Nahrungsmittel, die eine Stadt benötige, kommen von außerhalb, zu einem nicht geringen Teil aus anderen Ländern, ja sogar von fernen Kontinenten. Und weil der Lebensmittelhandel auf Effizienz, Vermeidung von Lagerhaltungskosten und auf schnelle Umlaufzahlen getrimmt sei, könne man Versorgungssicherheit eben nur für wenige Tage gewährleisten, wenn die Grenzen komplett dichtmachen.
Das gibt zu denken, insbesondere nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres. Und es macht deutlich, dass es bei Klimapolitik vielleicht doch um erheblich mehr geht als nur darum, süße Eisbärenbabys von schmelzenden Schollen zu retten. Denn die sogenannte "Ernährungswende", weg von weitgehend industriell erzeugten Lebensmitteln und Massentierhaltung hin zu einer unschädlicheren Nahrungsmittelproduktion auf vorwiegend pflanzlicher Basis, wird ja vor allem wegen der Auswirkungen auf das Weltklima propagiert.
Aber sie hat mindestens genau so viel mit lokalen und regionalen Problemen zu tun, die man auf den ersten Blick vielleicht gar nicht erkennt. Auch deshalb hat die grün-rote Stadtregierung sich in ihrem Koalitionsvertrag den Einstieg in die Ernährungswende zum Ziel gesetzt. "Es ist mir sehr wichtig, dass da was vorangeht", sagt die grüne Bürgermeisterin Katrin Habenschaden, "da herrschte ja die letzten sechs Jahre kompletter Stillstand".
Der Anteil an biologisch erzeugten Lebensmitteln in den städtischen Schulen und Kindertagesstätten soll bis 2025 auf 100 Prozent steigen - derzeit sind es rund die Hälfte der täglich 34 000 ausgegebenen Essen. Auch in Krankenhäusern, Kantinen und Heimen will man den Bio-Anteil deutlich erhöhen, ebenso bei städtischen Veranstaltungen wie dem Oktoberfest. "Urban Gardening" soll gefördert, Obst und Gemüse überall dort angebaut werden, wo es möglich ist.
"Man muss die Leute über die Vermittlung von Wissen zum Umdenken bringen"
Das Kernstück aber ist ein sogenanntes "Ernährungshaus", das Katrin Habenschaden schon im April 2018, damals noch als Stadträtin, beantragt hatte. Vor drei Jahren trug es den trendigen Titel "House of Food", aber den hat sich der Medienkonzern Bauer inzwischen markenrechtlich schützen lassen, weshalb die Stadt sich jetzt einen anderen Namen suchen muss. Das Ernährungshaus soll eine Bildungsstätte werden nach dem Vorbild des Kopenhagener Madhus, ein "außerschulischer Lernort für alle Bevölkerungs- und Altersgruppen" (Habenschaden). Örtliche Initiativen sollen sich dort mit Öko-Produzenten vernetzen, es soll Kurse für Einzelpersonen, Gastronomen und Kantinenbetreiber geben, eine Koordinierungsstelle für Direktvermarkter und Verbraucher ist geplant.
Und weil man "Urban Gardening" dort auch praktisch erproben und herzeigen möchte, wird das Ernährungshaus wohl eher am Stadtrand, dafür aber nahe an einem S-Bahnhof entstehen. Das neu gegründete Referat für Klima- und Umweltschutz arbeitet am Konzept, im Juli soll sich der Stadtrat damit befassen.
Dafür zeichnen sich schon jetzt breite Mehrheiten ab, jedenfalls von der Grundtendenz her. Der Koalitionspartner SPD ist sowieso dafür, sagt Stadträtin Julia Schmitt-Thiel, in der Fraktion für diesen Fachbereich zuständig. "Daseinsvorsorge war schon immer ein sozialdemokratisches Thema", sagt sie und verweist auch darauf, dass sich München bereits 2006 zur Biostadt erklärt hat. Aber selbst in der CSU gibt es zumindest für Teile des Konzepts Sympathien. Stadtrat Sebastian Schall sagt: "Wir wollen keine Zwänge oder so etwas wie vorgeschriebene Veggie-Days in Kantinen, aber man sollte mehr Angebote schaffen." Das solle schon in Kindergärten und Schulen beginnen: "Man muss die Leute über die Vermittlung von Wissen zum Umdenken bringen, das ist der richtige Weg."
Die breite Akzeptanz hat sicher auch damit zu tun, dass die Stadtgesellschaft breites Interesse am Thema zeigt. Gute und richtige Ernährung, was immer das im Einzelnen sein mag, bewegt die Menschen. Biomärkte boomen, man engagiert sich in Vereinen für solidarische Landwirtschaft und kauft auf dem Bauernhof ein. Schon vor knapp drei Jahren gründete sich ein Münchner Ernährungsrat als Verein, mittlerweile arbeiten an die 100 kleinere und größere Initiativen dort mit, und er wird wohl auch beim künftigen Ernährungshaus eine tragende Rolle spielen.
Ein wichtiges Thema: der übermäßige Fleischkonsum der Städter
Dennoch: Die Stadt mag große Pläne schmieden; was ihre Ernährung angeht, ist sie letztlich doch nur ein Punkt in der Landschaft. Denn draußen in der Region werden viele der Lebensmittel für die Städter produziert. Die Stadt selbst hat lediglich 4500 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche und kaum noch Bauern in ihren Grenzen. Rechnet man die heutigen Ernährungsgewohnheiten in den damit verbundenen Flächenbedarf um, dann braucht jeder einzelne 2500 Quadratmeter landwirtschaftliche Nutzfläche für seine Ernährung.
Eine vierköpfige Familie benötigt für ihre Ernährung also rein rechnerisch einen Hektar Land. 2017 hat Michael Böhm von der Freisinger Beratungsfirma Ecozept für ein Projekt der Bundesregierung zur Ernährungswende einmal ausgerechnet, was das für München bedeutet. Um die Stadt herum bräuchte man 14 Landkreise allein zur landwirtschaftlichen Nutzung, realistischerweise die Europäische Metropolregion München, die vom Ostallgäu über Augsburg und Eichstätt bis Dingolfing reicht und ganz Oberbayern umfasst.
Und weil Tierhaltung besonders flächenintensiv ist, spielt es auch noch eine große Rolle, wie viel Fleisch die Städter essen. "Es geht nicht darum, Fleisch zu verbieten", sagt Böhm, "es geht um die Menge". Je mehr sich die Menschen vegetarisch oder vegan ernähren, desto weniger Fläche brauchen sie für die Herstellung von Nahrungsmitteln.
Wie auch immer man zu der Perspektive einer anderen Ernährung stehen mag: Die Wirklichkeit hat eigene Gesetze und legt selber fest, was überhaupt noch machbar ist. In Bayern gehen Tag für Tag zwischen zehn und zwölf Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche verloren, werden bebaut mit Häusern oder Straßen. Ackerflächen werden deshalb langfristig knapp und wertvoller. Michael Böhm sagt dazu: "Wir werden es uns dann nicht mehr leisten können, wertvolle landwirtschaftliche Flächen für Futter- oder Energieerzeugung zu verwenden, so wie wir es in den letzten 15 bis 20 Jahren gemacht haben."
Massentierhaltung und Megaställe werden stark zurückgehen, weil schlicht die Flächen für Futterpflanzen fehlen und die Einfuhr aus Südamerika nicht mehr anzuraten ist. Der Boden ist halt ein endliches Gut, das zeigt sich in den Großstädten nicht nur bei der Mietenproblematik, sondern langsam auch in der Ernährung.