Süddeutsche Zeitung

Münchner Momente:Weg mit welken Gedanken

Manch ein Laubhaufen in den Straßen wächst auf mysteriöse Weise über Nacht. Ob da Münchner die Blätter aus ihren Gärten dazu schütten? So schlecht ist die Idee gar nicht, man sollte sie nur richtig anwenden.

Glosse von Wolfgang Görl

An den Straßenrändern sind jetzt überall Laubhaufen zu sehen, passend zur Herbstmelancholie, die jeden anständigen Münchner in der sinnlosen Zeit zwischen Wiesnhendl und Weihnachtsgans befällt. Braun, schrumpelig und spröde sind die Blätter, nichts ist geblieben vom frischen Grün des Frühlings, das den Menschen vorgaukelte, ein Sommer voller Flirts und Erdbeereis stünde bevor.

Moment mal! War der Frühling 2022 tatsächlich so verheißungsvoll wie in früheren Jahren, als er wie ein chlorophyllhaltiges Aphrodisiakum Leib und Seele in Wallung brachte? Nein, er war anders. In der Ukraine tobte der Krieg, Corona gab es auch noch, und jeder Sonnentag, ehedem ein Fest, erinnerte daran, dass die Menschheit dabei ist, die Erde zu einem Brutofen zu machen. Zwar war das Frühlingslaub so frischleuchtend grün wie immer, aber über das Auge hatte sich ein Schleier gelegt, der alles verdunkelte.

Jetzt also der Herbst, die Zeit, in der "alles was hold und lieblich, verwelkt und sinkt ins Grab". So hat es Heinrich Heine beschrieben, der wunderbare Dichter, der ein Dreivierteljahr in München lebte, wo er notierte: "Das Clima hier tödtet mich, sonst aber gefällt es mir gut." Angekommen war er im November, zur besten Zeit, um beim Anblick welker Blätter trübsinnig zu werden. Im heutigen München ist der November, bei aller Freude am Trauern, vor allem ein Monat des Gruselns und der unerklärlichen Ereignisse.

Wie wäre es, den ganzen Ballast in Kopf und Herz auf die Laubhaufen zu werfen?

So werden die Laubhaufen, welche die Straßenarbeiter tagsüber aufgeschichtet haben, während der Nacht immer größer, manche verdoppeln gar ihr Volumen. Es liegt auf der Hand, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugeht, dass hier Mächte im Spiel sind, die der menschliche Verstand nicht zu fassen vermag. Wie sonst könnte sich das Laub über Nacht vermehren? Dass es Münchner gibt, die die Blätter aus ihrem Garten heimlich dazuschütten, ist ja wohl nicht denkbar.

Nein, das ist ausgeschlossen, wobei man hinzufügen muss: So schlecht ist die Idee gar nicht, man sollte sie nur richtig anwenden. Wie wäre es, wenn man den ganzen Ballast, der sich im Verlauf dieses miesen Jahres im Kopf und im Herzen angesammelt hat, auf den Laubhaufen werfen würde? Die Ängste, die Sorgen, den Kummer, die Albträume, die vorweggenommene Wut über die Gasrechnung und die peinliche Geschichte mit dem versäumten Steuertermin - all diesen Mist würde man ins Herbstlaub stecken und darauf vertrauen, dass die städtische Straßenreinigung die Entsorgung übernimmt.

Eines Morgens werden die Männer in Orange den Blätterhaufen mitsamt dem hinzugeschmuggelten Gedanken- und Gefühlsmüll auf ihr Kehrrichtfahrzeug packen und abtransportieren. Vielleicht ist der Kompost, der aus der Mixtur entsteht, sogar besonders wirksam, zumindest bei Trauerweiden, Tränenden Herzen und Schwarzwurzeln. Egal, Hauptsache der Novemberblues ist weg und der Kopf ist wieder frei für alles, was hold und lieblich ist, auch wenn es noch in der Ferne liegt: die sprießenden Bäume, das leuchtendgrüne Laub, der Frühling.

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