Mammutverfahren am Landgericht:17 000 Seiten Klageschrift

Mammutverfahren am Landgericht: Das Bild zeigt einen kleinen Teil der Akten kurz nach der Anlieferung.

Das Bild zeigt einen kleinen Teil der Akten kurz nach der Anlieferung.

(Foto: Landgericht)
  • Am Landgericht München I beginnt am Donnerstag die Verhandlung im bundesweit größten Verfahren um Kartellschadenersatz.
  • Allein die Anklageschrift umfasst 17 000 Seiten. Zudem wird es um Unterlagen aus insgesamt rund 85 000 Kaufvorgängen gehen.
  • 14 Jahre lang sollen die größten europäischen Lastwagen-Bauer ihre Verkaufspreise abgesprochen haben, das sind Daimler, Volvo, Iveco, MAN und DAF.

Von Stephan Handel

Die Lieferung kam zwei Tage vor Weihnachten, aber dass Gesa Lutz sie als Geschenk betrachtete, ist eher unwahrscheinlich. Ganz sicher aber wusste sie, dass da eine ganze Menge Arbeit im Foyer des Landgerichts München I am Lenbachplatz herumstand, wo Lutz die Vorsitzende Richterin der 37. Zivilkammer ist: Um die hundert Kartons waren eingetroffen im Dezember 2017; darin enthalten die Klage im bundesweit größten Verfahren um Kartellschadenersatz. 17 000 Seiten umfasst allein die Klageschrift, dazu die Unterlagen aus insgesamt rund 85 000 Kaufvorgängen, um die es gehen wird.

Das war im Dezember 2017 - am Donnerstag nun, knapp zwei Jahre später, wird die Verhandlung beginnen. Es geht um eine Klage gegen das so genannte Lkw-Kartell: 14 Jahre lang sollen die größten europäischen Lastwagen-Bauer ihre Verkaufspreise abgesprochen haben, das sind Daimler, Volvo, Iveco, MAN und DAF. Als das Kartell aufflog, verhängte die EU Milliarden-Bußgelder gegen die Unternehmen; allein Daimler musste eine Milliarde Euro bezahlen. Nur MAN, in München ansässig, profitierte von einer Art Kronzeugenregelung und kam straffrei davon.

Die jetzige Klage richtet sich dennoch gegen alle fünf Unternehmen. Die Firma "Financialright Claims"mit Sitz in Düsseldorf und einzig zu diesem Zweck gegründet, hat unter Spediteuren und Transportunternehmern geworben, etwa 3200 mutmaßlich Geschädigte sind eingestiegen, für sie alle klagt das Unternehmen. Der eingeklagte Schaden: mehr als 600 Millionen Euro. Der gute Ruf der Münchner Kartell-Richter mag dabei Segen und Fluch zugleich sein - Financialright Claims teilt mit, das hiesige Landgericht sei unter anderem ausgewählt worden, weil die Kammer über "hohe Kompetenz und Erfahrung in Kartellsachen" verfüge.

Kompetenz und Erfahrung wird auch nötig sein, denn einige juristische Probleme sind noch völlig ungeklärt. So sagt auch Andrea Schmidt, die Landgerichtspräsidentin: "Es handelt sich um ein besonders anspruchsvolles und hochkomplexes Verfahren, das grundlegende Rechtsfragen im Bereich des Kartell-Schadensersatz aufwirft. Diese Fragen sind bislang nicht höchstrichterlich geklärt worden." Schmidt allerdings musste zuvor einige andere Schwierigkeiten regeln, die ein solches Mammut-Verfahren aufwirft.

Die 37. Kammer arbeitet eigentlich am Lenbach-Platz - die Akten der laufenden Verfahren werden für gewöhnlich dort in den Geschäftsstellen aufbewahrt. Für die Menge an Papier, die nun aber anfällt, ist dort kein Platz. So mussten Lagerräume leer geräumt werden, damit alles einen Platz hat, für das Gericht aber dennoch ständig greifbar ist. Die Gerichtssäle am Lenbachplatz haben zudem höchstens die Größe üppiger Wohnzimmer, was für dieses Verfahren offensichtlich nicht ausreichend ist.

Münchner Landgerichtspräsidentin Andrea Schmidt.

Landgerichtspräsidentin Andrea Schmidt (vor dem Gerichtssaal) musste für das Verfahren einige Schwierigkeiten aus dem Weg räumen.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

So zieht Gesa Lutz mit ihren beiden Richter-Kollegen einmal quer über die Straße - in den Justizpalast und dort in den Saal 134. Der ist zwar beeindruckend groß sowie zur Mahnung an alle Beteiligten mit einem Fries geschmückt, das einen Querschnitt durch die Geschichte der Rechtssprechung zeigt, von Adam und Eva bis zu Montesquieu - allerdings "gehört" der Raum eigentlich dem Justizministerium, das dort Konferenzen und Fortbildungen veranstaltet. So kann die Hausverwaltung erst am späten Mittwochnachmittag beginnen, den Saal für die Verhandlung am Donnerstagvormittag umzubauen. Immerhin: Das Podest, auf dem das Gericht Platz nehmen wird, das steht schon. Allein rund 30 Plätze sind für Pressevertreter reserviert, wie groß das Publikumsinteresse zumindest am ersten Tag sein wird, ist unabsehbar.

Das jetzige Verfahren ist nicht das einzige aus dem Komplex Lkw-Kartell, mit dem die Kammer sich zu beschäftigen hat - insgesamt rund 110 Klagen unterschiedlicher Größenordnungen sind derzeit anhängig. Deshalb hat das Gerichtspräsidium beschlossen, die Kammer zu entlasten: Andere Spruchkörper haben die Urheberrechtsklagen und jene gegen unlauteren Wettbewerb übernommen, mit denen sich Gesa Lutz und ihre Kollegen sonst noch beschäftigen. Und für sonstige Zivilsachen wurde eine Hilfskammer gebildet, freiwillig dafür gemeldet haben sich vier Kollegen aus dem Handelsrecht - diese Kammer ist nun, auch das gewiss ein Novum, mit Richtern besetzt, die in ihren eigenen Kammern jeweils die Vorsitzenden sind.

Wie lange der Prozess dauern wird, kann heute noch niemand sagen. Optimistische Schätzungen sprechen von zwei Jahren, andere halten fünf für realistischer. Am ersten Tag wird sich das Gericht mit der Frage der so genannten Aktivlegitimation beschäftigen: Ob Financialright Claims sich die Forderungen ihrer Klienten rechtskräftig hat abtreten lassen und dadurch zur Klage berechtigt ist. Die Beklagten bestreiten dies. Sollte das Gericht zu der Überzeugung kommen, dass die Abtretungen nicht korrekt sind, dann wäre einer der größten Münchner Prozesse seit Beginn der Aufzeichnungen schnell vorbei - nämlich nach genau einem Tag.

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