Das Tatmotiv ist schon ungewöhnlich: Havva S. soll einen alten, gebrechlichen Mann getötet haben, damit er ihrem Ehemann nicht die Nummer eines ehemaligen Saufkumpans geben kann. Denn unter seinem Einfluss sei ihre Ehe die Hölle gewesen, behauptet sie. Nun sitzt besagter „Saufkumpan“ als Zeuge vor Gericht und sagt: „Das ist alles eine Lüge!“ Er schildert die 52-Jährige als kontrollierende, dominante und aggressive Frau. Einmal seien er und seine Frau Zeugen geworden, als sich das Ehepaar gegenseitig anschrie und ohrfeigte. „Seitdem waren wir nie wieder dort.“
Das Mordmotiv, das Havva S. über ihre Verteidiger kundtat, es zerbröselt und schwimmt die Isar hinab. Und gerade fließen auch am Landgericht München I vor der 1. Schwurgerichtskammer die Tränen. Gleich am Morgen soll Aslan B. (Name geändert), der mutmaßliche Saufkumpan, aussagen. Und Havva S. will ihn nicht sehen. „Ich kann es Ihnen nicht ersparen, das ist rechtlich nicht möglich“, erklärt die Vorsitzende Richterin Elisabeth Ehrl, „er ist ein wichtiger Zeuge“. Havva S. wimmert: „Er hat mir so viel Schaden zugefügt.“
Immer, wenn Havvas Ehemann mit Aslan B. unterwegs war, soll er betrunken und aggressiv nach Hause gekommen sein. Er soll Havva geschlagen und einmal sogar aus der Wohnung geworfen haben. Und Aslan B. soll den Ehemann angestiftet haben, sich von seiner Frau keine Vorschriften machen zu lassen und sie gegebenenfalls zu verlassen. So jedenfalls stellte die Angeklagte die Situation dar. Als sie nach langen Jahren auf der Straße den 76-jährigen Halil O. traf und er erwähnte, er habe noch Kontakt mit Aslan B., befürchtete Havva S., dass der Senior die Handynummer von Aslan B. ihrem Ehemann geben könnte. Sie ging in die Wohnung des gebrechlichen Mannes und fügte ihm mit einem Küchenmesser mehr als 100 Schnittverletzungen zu. Halil O. verblutete.
„Bin ich jetzt der Sündenbock für sie?“, fragt Aslan B. etwas aufgebracht, „sie hat an Festtagen seine Hand geküsst, sie hat in seiner Wohnung Tee getrunken und ihn dann vernichtet“.
Aslan B. und Havva S. wuchsen im selben Wohnblock in München auf. Ihre Väter waren mit Halil O. befreundet, „ich kannte ihn seit meiner Kindheit“, erzählt der Zeuge. Havvas Vater sei oft laut gewesen, ihr Bruder Berkant sei später dem Alkohol verfallen. „Sie hatte mit beiden immer Streit.“
Er habe Havvas Ehemann nie gegen seine Frau aufgehetzt, „was hätte ich davon, wenn sie sich scheiden lassen“. Und er habe ihn nie zum Trinken animiert, „er hat in der Türkei schon viel Alkohol getrunken, eine Flasche Raki konnte er schon trinken“. Das Gegenteil sei der Fall gewesen: Wenn er sich mit Freunden verabredet hatte, sei Havvas Ehemann plötzlich mit dem Fahrrad angekommen. Richtig betrunken habe er ihn nie erlebt, „wenn er trank, wurde er lustig“. Später sei man noch ins Schiller Café gegangen, „und wir wollten, dass er heimgeht, jeder wusste, dass Havva Stress machte. Aber er ging uns einfach nach.“ Etwa einmal im Monat sei der Ehemann mit ihnen unterwegs gewesen. „Wir wollten ihn dann nicht mehr mitnehmen, weil es immer Stress gab. Da war er beleidigt.“
Eventuell, so meint Aslan B., sei Havva eifersüchtig, „oder sie hat eine Krankheit, so nervlich“. Wenn sie sich ärgerte, hätte sie immer herumgeschrien, mit ihren Kindern, mit ihrem Mann. Nach außen hin aber sei sie bei anderen Menschen immer sehr höflich und hilfsbereit gewesen. „Das war die Kehrseite der Medaille.“
Ihr Mann hätte ihn gelegentlich besucht, um mit ihm Kaffee zu trinken und von Streitereien mit Havva zu erzählen. Wenn er längere Zeit da gewesen sei, sei Havva gekommen, um ihn zu holen. Auch als Havvas Bruder mit ihrem Ehemann ausging, sei sie zur Ehefrau des Bruders gegangen und habe dafür gesorgt, dass der Kontakt abbrach. „Die Havva war der Chef“, sagt B. über die Ehe der Angeklagten. Wenn sie ihre Probleme nicht selbst lösen könne, warum beschuldige sie jetzt andere? „Berkant ist schuld, ich bin schuld, und morgen ist es ein anderer.“