Rebellion in Gräfelfing:Zur Reife auf Abwegen

Rebellion in Gräfelfing: Schauspielerin Jutta Speidel: Zweimal von der Schule geflogen. Von welcher? Ach so.

Schauspielerin Jutta Speidel: Zweimal von der Schule geflogen. Von welcher? Ach so.

(Foto: Stephan Rumpf/Stephan Rumpf)

Neuerdings will jeder Kreissparkassendirektor und jeder Promi eine wilde Jugend gehabt haben. Sogar Jutta Speidel.

Von Wolfgang Görl

Kürzlich hat die Schauspielerin Jutta Speidel in der Talkshow "3 nach 9" erzählt, dass sie als Jugendliche zweimal von der Schule geflogen und überhaupt ein wilder Feger gewesen sei. Ja, red du nur, dachte man, heutzutage behauptet ja jeder Kreissparkassendirektor, eine Jugend in Aufruhr und Revolte verlebt zu haben. Sogar Friedrich Merz war nach eigenem Bekunden ein verwegener Bursche, der mit dem Motorrad durch die Stadt raste und, Gipfel der Ruchlosigkeit, Bier trank und rauchte. Und jetzt also Jutta Speidel. Auch sie will ein Bürgerschreck gewesen sein.

Doch gerade als man weghören wollten, sagte die Schauspielerin drei Worte, die alles änderten: "Kurt-Huber-Gymnasium." Ach so. Sie ging aufs Kurt-Huber-Gymnasium. Ja, dann! Dann stimmt ihre Story von der wilden Jugend natürlich. Im Würmtal, von Gauting bis in die kaputtsanierten Viertel Pasings, pfeifen es noch heute die Spatzen vom Dach: Jeder, der Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre im Gräfelfinger Kurt-Huber-Gymnasium der Reifeprüfung entgegentaumelte, geriet in einen unwiderstehlichen Sog aus Rock'n'Roll, Rebellion und unchristlichen Begierden -ausgenommen Streber und Junge-Union-Bürscherl wie Friedrich Merz.

In diesem "ganz linken Gymnasium" (Speidel) traf der junge Mensch jene tollen Typen, vor denen die Eltern immer gewarnt hatten. Und bald gehörte man selbst dazu. Den größten Respekt genossen die Jungs und Mädels der Oberstufe, die die gymnasiale Speerspitze der 68er-Bewegung verkörperten. Auf ihre Jeans hatten sie Parolen gegen alte Nazis und den Vietnamkrieg gemalt, und ihrem besten Mann hätten wir am liebsten unser Pausenbrot spendiert, weil er einmal mit Foto in der Zeitung stand. Er hatte sich geweigert, im Unterricht den Hut abzunehmen, was als Zeichen eines Sittenverfalls gewertet wurde, der unweigerlich in den Bolschewismus führe.

Wir aber sahen das anders: War das nicht die Freiheit, die Morgenröte einer neuen Zeit, zu der Janis Joplin, Bob Dylan und Jimi Hendrix den Soundtrack lieferten? Stillsitzen im Klassenzimmer, das war nicht das richtige Leben. Das fand woanders statt: Im Pasinger Freibad, wo, das muss man zerknirscht zugeben, die Joints geraucht wurden, die der Nachbar in der Lateinstunde gedreht hatte; oder auf Partys in sturmfreien Villen, die in Flirts unterm Sternenhimmel mündeten; oder in der Eisdiele, wo ein freundlicher Herr einmal ein Gruppenfoto schoss. Jeder, der da drauf war, wurde später von Drogenfahndern verhört. Einige waren richtig stolz, zu den Verdächtigen zu gehören.

Unterm Strich waren das gute Zeiten, und der Lehrkörper tat wenig, dies zu ändern. Neben einigen Studienräten, denen womöglich noch die Hitlerjugend in den Knochen steckte, gab es Pädagogen neueren Typs, etwa die junge Mathematiklehrerin, deren Röcke so kurz waren, dass die Jungs das mathematische Geschehen an der Tafel aus den Augen verloren. Wie soll man sagen? Es gab eine gewisse Wurschtigkeit in puncto Disziplin, aber vielleicht war es auch das Wissen um die Grenzen pädagogischen Bemühens. Schulbildung ist nützlich, aber zur Reife gelangt der Mensch erst auf Abwegen jenseits des Lehrplans.

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