Süddeutsche Zeitung

Medienkunst:Das Verstummen der Natur

Der Münchner Künstler Kalas Liebfried setzt sich in einem interaktiven Website-Projekt mit dem Aussterben von Klängen auseinander.

Von Jürgen Moises, München

Wie das wohl ist, ein Frühling ohne Stimmen? Ohne den Gesang, die Schönheit und die Farben von Drosseln, Hähern, Zaunkönigen und anderen Vögeln, weil diese tot oder aus anderen Gründen verschwunden sind. Vor sechzig Jahren war genau das in den USA in zahlreichen Gebieten zu erleben. Der Grund? Der massive Einsatz des Insektenvernichtungsmittels DDT, das bald darauf dank "Silent Spring" verboten wurde. So hieß das 1962 erschienene Buch der Biologin Rachel Carson, das heute als Grundstein der weltweiten Öko-Bewegung gilt. Ein Leben ohne den Gesang der Vögel, das erschien den Leuten als eine schreckliche Vision. Eine, die aber leider nicht aus der Welt ist. Denn auch heute noch sterben täglich Vogel- oder andere Tierarten aus.

Das heißt: Unsere Welt wird tagtäglich akustisch ärmer, und wir kriegen das oft nicht einmal mit. Weil uns das Interesse oder auch das ästhetische Bewusstsein dafür fehlt. Genau das will Kalas Liebfried mit "Fragments Of Sonic Extinction" ändern. Einem unter www.sonicextinction.net verorteten Webseiten-Projekt, das der Münchner Künstler vor ein paar Monaten gestartet hat. Er hat dafür internationale Künstler, Komponisten, Musiker und Elektronik-Produzenten um audiovisuelle Arbeiten gebeten, die sich mit dem Aussterben von natürlichen Klängen beschäftigen. Insgesamt acht, Woche für Woche hochgeladene Beiträge umfasst die erste Edition, die seit dem 29. Juli komplett online ist. Eine zweite Edition soll im ersten Quartal nächsten Jahres folgen.

Aktuell kann man Orca-Wale singen hören

Aktuell kann man nun jedenfalls im Beitrag von Alba Vega Mulet aus Amsterdam Orca-Wale singen hören und über eine verknüpfte Live-Kamera auch schwimmen sehen. Laura M. Ramsey aus Toronto befasst sich mit dem Phänomen, dass zu hohe Temperaturen Heuschrecken zum Verstummen bringen. Der New Yorker Alexander Liebermann hat den Gesang des auf dem Hawaii-Archipel beheimateten und höchstwahrscheinlich ausgestorbenen Vogels Kauaʻi ʻŌʻō (auf Deutsch Schuppenkehlmoho) in eine Komposition umgesetzt, die man anhören und herunterladen kann. Lea Bertucci, ebenfalls aus New York, widmet sich in Form von Zeichnungen und spekulativen Klängen der im 19. Jahrhundert ausgerotteten amerikanischen Wandertaube. Und der Komponist Nursalim Yadi Anugerah bringt in seinem Beitrag Texte von Jorge Louis Borges und Bernard Sellato mit Vorstellungen zusammen, welche die Menschen auf Kalimantan (Borneo) von Tigern haben.

Kalas Liebfried selbst hat Texte, Bilder und Töne einer Performance beigesteuert, die er zusammen mit der Klarinettistin Rozenn le Trionnaire im März im Musée d'Art Moderne de Paris absolviert hat und die den Auerhahn zum Thema hat. Das Publikum hatte dort Keramikpfeifen und Spielanweisungen bekommen. Auch auf der Website kann man an vielen Stellen mit der Maus oder auf andere Art interagieren. Das war dem 33-Jährigen sehr wichtig: dass man sich "zuständig" fühlt. Und dass man als Besucher einen ästhetischen und damit emotionalen Zugang zum Thema erlangt. So etwas könne man nämlich nur mit "kulturellen Artefakten" erreichen, nicht mit reinen Daten oder Messungen.

Das Verschwinden der Klänge soll auf kollektiver Ebene behandelt werden

Dass das Verschwinden der Klänge "auf einer kollektiven Ebene behandelt werden muss", dieser Gedanke sei ihm schon bald nach seiner Soundperformance 2019 in der Pinakothek der Moderne gekommen. Auf Anfrage hatte er sich damals mit der Installation "Das Ende des 20. Jahrhunderts" von Joseph Beuys beschäftigt und dazu eine Arbeit zum Thema "der verstummte Wald" gemacht. Die Performance in Paris war dazu gewissermaßen die Fortsetzung. Und im nächsten Jahr soll es dann wie gesagt mit der zweiten Edition von "Sonic Extinction" weitergehen.

Dazu brauche es wie bei Nummer Eins aber erst die Fördergelder, sagt Liebfried, damit er als künstlerischer Leiter die Beteiligten alle bezahlen kann. Dazu gehört neben einem Webdesigner auch der Komponist und Musiker Beni Brachtel, der das Mastering gemacht hat und mit dem Liebfried schon länger kooperiert. Laura M. Ramsey aus Toronto wird übrigens die Fortsetzung mit kuratieren. Geographisch soll es in den "globalen Süden" gehen, nach Südamerika, Ozeanien, Ostasien. Und danach soll sich das Ganze wie ein Archiv, ein "spekulatives Enzyklopädium" immer mehr füllen. Ganz langsam, mit den Bildern und den Tönen einer leider sehr schnell verschwindenden Welt.

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