Süddeutsche Zeitung

Kultur in München:Tanz durchs Wohnzimmer

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Die ersten Konzerte auf der Münchner Online-Plattform "Kulturretter" machen die vielen Möglichkeiten des Streamings deutlich - aber auch die Probleme.

Von Jürgen Moises

Mehr als 2000 Zuschauer haben sich versammelt. Sie alle wollen die "Dichtis", das Hip-Hop-Duo Dicht & Ergreifend sehen. Als sich die bayerischen, in Berlin lebenden Rapper verspäten, kommt es, wie man das so kennt, zu leichter Unruhe im Publikum. "Wird Zeit", meint einer. "Buam, gebt's Gas" ein anderer. Und ein dritter: "Wart's, ich muss mir noch 'ne Halbe Bier holen." Um kurz vor halb neun geht es dann los. Die Kamera springt an, das Bild wackelt und, und, und: George Urkwell und Lef Dutti sitzen zu Hause auf dem Sofa. Auf dem von Dutti in Berlin, um genau zu sein. Denn von dort aus wurde die "Wohnzimmer-Session" von Dicht & Ergreifend als Auftakt der Münchner Plattform kulturretter.de eineinhalb Stunden lang gestreamt.

Wer jetzt also dachte, hier wird von einem illegalen Konzert, einem Bruch des Versammlungsverbots erzählt, den kann man beruhigen. Keiner ging raus. Auch das Publikum blieb, darf man annehmen, brav zu Hause und verfolgte die Session ebenfalls vom Sofa, vom Schreibtisch, der Küche oder, wer weiß das schon, vom Klo aus. Das kulturelle, öffentliche Leben ist durch Corona ja allgemein auf eine seltsame Weise privat geworden, konnte man in den vergangenen Tagen doch noch unzählige andere Musiker oder Schriftsteller von zu Hause aus streamen sehen. Da vermischte sich das Konzert oder die Lesung mit der privaten Homestory. Man bekam mit, wie die Musiker, Schriftsteller wohnen. Und wie es aussieht, wird das noch einige Wochen so andauern.

Was diese Homestory-Aktionen ebenfalls verbindet: Vieles wirkt improvisiert und unfertig, oder wie es der Youtube-Star Rezo in einem Zeit-Artikel beschrieben hat: Die Leute machen, "was sie sonst auch live tun würden, und halten da eine Kamera drauf". Auch vom "Zauber des Anfangs und des Happenings" schreibt Rezo, und dass dieser womöglich bald verblasst. Und damit vielleicht auch die Bereitschaft der Zuschauer, "parallel in einen Spendentopf einzuzahlen". Sein Ratschlag: Professionalisierung. Das heißt, man solle das Webvideo als "eigenständige Kunstform" mit seinen "Möglichkeiten in Gestaltung und Präsentation" ernst nehmen.

Was das betrifft, da fiel die Session der Dichtis doch eher in die Kategorie spontanes Happening. Man hing virtuell gemeinsam mit den beiden auf dem Sofa ab. Dutti und Urkwell plauderten ein bisschen, performten zu Playback ein paar ihrer Hip-Hop-Songs. Es gab eine Yoga-Einlage und mit "positiv denken" oder "ein heißes Bad" Gesundheitstipps. Eine Lesung, bei der sie die Lyrics eigener Songs und englischer Rap-Klassiker, ins Hochdeutsche oder eher in fiktives Mittelhochdeutsch übersetzt, vortrugen. Urkwell spielte als Klavier-Anfänger Beethovens "Ode an die Freude". Schließlich klang das Ganze mit dem chilligen Song "Fensdabuzza" aus.

Kurz: Es war eine Mischung von fast allem, wie man es etwa auch auf zuhause-festival.de oder one-muc.de sieht. Inklusive des Running Gags, dass die beiden, um Platz zu schaffen, ständig das Sofa hin und her trugen. Es gab ein paar Längen, Tonausfälle, aber die eineinhalb Stunden gingen recht schnell rum. Und: Am Schluss waren knapp mehr als 10 000 Euro Spendengeld im Kasten. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass 100 000 Euro das gesetzte Ziel sind. So viel wollen die Kulturretter-Macher Fabian Rauecker und Stefan Schröder von der Agentur "Unterhaltungsreederei" bis zum 19. April durch den Verkauf von Spenden-Tickets, von T-Shirts oder Tassen reinkriegen und dieses Geld anschließend an die beteiligten Künstler verteilen.

Wobei Dicht & Ergreifend das Geld gar nicht haben, sondern lieber anderen geben wollen. Das gilt auch für Sarah Straub, die einen Tag später bei kulturretter.de auftrat, konkret: in der Kaffee-Rösterei Dinzler in Irschenberg. Und nicht alleine, sondern mit Florian Hirle, Jo Barnikel, Fany Kammerlander und Konstantin Wecker zusammen. Das Konzert stand unter dem Motto "Social Distancing mit Herz", war zugegeben doch etwas professioneller, was vielleicht an Medienpartnern wie dem BR, WDR und Deutschlandfunk lag. Aber: Es schauten nur 20 Leute zu, zumindest bei Kulturretter. Auf Straubs eigener Facebook-Seite lief das Konzert parallel auch. Und es war mit einer eigenen Startnext-Kampagne verknüpft, bei der inzwischen 7000 Euro zusammenkamen.

Am Tag zuvor hatte der Liedermacher Stoppok 3400 Euro für Sea-Eye gesammelt, am Samstag fand das "Twitch Stream Aid" mit internationalen Stars statt. Und auch auf "United We Stream", "Dringeblieben" oder "Zuhause Festival" gab und gibt es Spendenkonzerte oder DJ-Sets. Zu entscheiden, was man davon unterstützungswürdig findet, ist da gar nicht mal so einfach. Bei kulturretter.de fehlen jedenfalls noch mehr als 80 000 Euro. An diesem Montag sind dort die Singer-Songwriterinnen Hanna Sikasa, Elena Steri, Ala Cya, Cosma Joy und Die Nowak zu sehen.

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Quelle:
SZ vom 30.03.2020
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