Kunst in der Krise:Platz für den Retter

Eingespieltes Team: Benjamin David (rechts) bezirzt die Politik und das Publikum, Jürgen Reiter (links) plant das Programm des Kulturlieferdienstes und spielt selbst Bass in diversen Bands.

Eingespieltes Team: Benjamin David (rechts) bezirzt die Politik und das Publikum, Jürgen Reiter (links) plant das Programm des Kulturlieferdienstes und spielt selbst Bass in diversen Bands.

(Foto: Vica Halt)

Benjamin David hat mit seinem Kulturlieferdienst Musik in den Münchner Corona-Sommer gebracht. Jetzt plant er für den Winter und hat sieben Bühnen unter freiem Himmel beantragt.

Von Michael Zirnstein

Der Kleinwagen wackelt. Hinter dem regennassen, beschlagenen Seitenfenster lässt die Innenbeleuchtung Benjamin David spukhaft aufscheinen, der den Beifahrerraum weitgehend ausfüllt. Mit der einen Hand gestikuliert er heftig, mit der anderen hält er sich ein Smartphone vors Gesicht. Es ist dunkel, kalt und nass in Untergiesing, 17.30 Uhr, kurz vor Beginn des 59. Kulturlieferdienstes.

David hat das Format Anfang Mai erfunden, als Kulturveranstaltungen wegen Corona noch verboten waren, man sich aber zum Demonstrieren auf der Straße treffen durfte. Warum zwischen den Reden nicht endlich wieder Rock hören? Im Sommer, als Konzerte und Theater in Maßen wieder erlaubt waren, hatte sich das Projekt fast erledigt, so schien es. Doch Ben David und sein Partner Jürgen Reiter machten weiter, auch weil es klappte und für sie selbst und die Künstler stets eine auskömmliche Summe im analogen und digitalen Spendenhut übrig blieb. Jetzt zahlt es sich wieder aus: Im zweiten sogenannten Lockdown ist das Konzept erneut das einzige, das Kultur im öffentlichen Raum ermöglicht. Mit dem Lieferdienst und ihrem Kulturstrand haben David und Reiter in dieser Ausnahmesaison bereits 159 Konzerte gestemmt.

Eigentlich hätte er an diesem Abend wegen des Sauwetters alles abblasen sollen, aber er zieht es durch. Auf der anderen Seite der "Zoom"-Leitung hören David etwa 250 Architektur-Studenten der Fachhochschule Luzern zu. Ihnen will er etwas bieten. Zunächst einen Impulsvortrag über seine Vereine Urbanauten und Isarlust sowie die Idee und das Recht, mit politischen Aktionen Musik, Theater und Performance zurück in die Stadt zu bringen - und umgekehrt. Danach gibt es eine Live-Übertragung des Kulturlieferdienstes.

Den hält der Professor Wolfgang Rossbauer prädestiniert dafür, seine Studenten zu inspirieren. Denn auch sie sollen interdisziplinäre, pandemietaugliche Begegnungsplattformen entwickeln. Davids "temporary mobile social distance culture solidarity public spaces" sei nicht nur "lässig", sagt Rossbauer, sie würden durch die Okkupation und Umdeutung öffentlicher Orte auch gesellschaftspolitisch Kritik äußern. Die durch diese "Intervention" erfolgende Veränderung der Raumwahrnehmung - das Thema des Semesters - vergleicht der Professor gar mit einer Installation von Joseph Beuys im Kunstmuseum Beacon. Ja, und dieser "chaotische" Einblick mitten aus dem Geschehen habe die Studenten aus dem coronabedingten Winterschlaf gerissen.

Das Umschalten von Zoom auf Facebook hakt. Es dauert, bis David seinen Sohn Xaver mit der Handykamera an eine Wlan-sichere Stelle vor der Bühne dirigiert hat. Dann aber ist er wieder ganz Zirkusdirektor, begrüßt die wenigen Passanten vor dem Pils Pub Zic Zac am Flatterband und weist spaßig auf die Hygieneregeln (die er sehr ernst nimmt) hin: "Sie können sich die Hände waschen in dieser hübschen Pfütze, die wir eigens angelegt haben." Ansonsten kann er die Reden zurückschrauben, den vorgeschriebene Sprechanteil von 50 Prozent überwacht diesmal keine Polizeistreife.

Saschmo Bierbergeil hat eine Stunde Zeit für seinen deutschsprachigen Soul. Das ist prima, findet dessen Bassist Jürgen Reiter. Mit Hello Gypsy, The Wizards von Blues-Guru Dr. Will (der gerade am Schlagzeug sitzt) - eigentlich immer der selben Band unter wechselnden Namen - hat er etliche Kulturlieferdienste bestritten. "Als Musiker hat man ja momentan sonst kaum was zu tun", sagt er, "gut, dass der Ben so einen Drive hat, das durchzuziehen." Der Bassist ist Davids fürs Programm zuständiger Partner Jürgen Reiter.

Benjamin David dagegen umgarnt als Behörden-Flüsterer die Sachbearbeiter im Kommunalreferat und die Stadtviertelpolitiker. 22 von 25 Bezirksausschüssen haben ihm Zuschüsse für die Reihe versprochen, schon deshalb kündigt er weitere Konzerte an, auch wenn es nun draußen immer ungemütlicher wird. Ums Publikum sorge er sich nicht, wohl aber um die Musiker. Einige hätten jüngst abgesagt, wegen der klammen Finger oder weil es für die Instrumente zu kalt war. Er versucht daher gerade einen Lkw mit beheizbarer, seitlich aufklappbarer Ladefläche zu organisieren. In Giesing tun es die gelifteten Heckklappen zweier Pkws als Bühne, darüber hat er zwei Brauereischirme aufgespannt vom Kulturstrand, den er schließen musste.

Indoor-Veranstaltungen werden eher kritisch gesehen - wegen der Planungsunsicherheit

David plant aber schon für die Zeit, "wenn München nicht mehr dunkelrot ist" - seine Mission "Kulturwinter": Eben auf der Corneliusbrücke und an weiteren Balkonen entlang des Isar-Westufers und auf der Grünfläche vor dem europäischen Patentamt hat er von 28. November an Genehmigungen für sieben Bühnen für jeweils 50 bis 200 Zuschauer mit Mini-Gastronomie beantragt. Die möchte er zusammen mit anderen Akteuren der Münchner Szene bespielen, er spricht darüber etwa mit dem Technoclub Harry Klein, dem Fraunhofer-Wirt Peppi Bachmaier, mit Dierk Beyer vom Pop-up-Biergarten im Nußbaumpark, nun wünscht er sich noch einen Partner in Sachen Jazz. Das Kulturreferat hat er bereits um Unterstützung mit Veranstaltungstechnik und Geld gebeten. Dort ist David durchaus willkommen.

Auch Kulturreferent Anton Biebl plant weiter für die Zeit nach dem sogenannten Lockdown, hat sich bereits mit Veranstaltern von der städtischen Aktion "Sommer in der Stadt" und weiteren Akteuren getroffen, "um auszuloten", was in der kalten Jahreszeit möglich ist. "Die Aussichten für ,indoor' werden von den Veranstaltern und Veranstalterinnen aber eher kritisch gesehen, da zu wenig Planungssicherheit und realistische Aussicht auf eine Durchführung besteht", sagt er. Es gebe jedoch einige Initiativen, unter freiem Himmel Bühnen zu bespielen, wie die von David. "Wir stehen im Austausch mit ihnen und prüfen Unterstützungsmöglichkeiten, auch finanziell. Angesichts der aktuellen Situation und des Veranstaltungsverbots gibt es jedoch noch keine belastbaren Perspektiven."

Abzuwarten bleibt vor allem die Vollversammlung des Stadtrats am 19. November, in der unter anderem Ansagen getroffen werden, wie viel Etat dem Kulturreferat überhaupt noch zum Verteilen bleibt. Aber gerade Davids solidarischer Ansatz nach dem Vorbild der Olympiaparkbühne von "Sommer in der Stadt" kommt im Kulturreferat gut an. Partner an Bord zu holen, ist auch für David die beste Option, um den Kulturwinter "halbwegs finanzierbar" zu machen. Man könnte sich den Aufbau von Wasser- und Stromleitungen sowie die Kosten für die Sanitäranlagen teilen. Die Krise hat ihm gelehrt, man muss nicht nur sich mitteilen, sondern auch teilen können.

Nächste Kulturlieferdienst-Termine: Nr.: 68, Fr., 13 Nov., 16 Uhr, DisM, Heinrich-Böll-Straße; Nr.: 69, Drumadama, Sa., 12-13 Uhr, 14. Nov., Hönigschmidplatz; Nr.: 70, Pakobeatz & DJ Venus, Sa., 14. Nov., 14 Uhr, Willibaldstraße 18; Spenden: paypal.me/kulturlieferdienst

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