Kultur in München:"Telefonzellen waren früher Orte, an denen über räumliche Distanz Nähe hergestellt wurde"

Kultur in München: Miriam Worek (Mitte), Philipp Engelhardt (links) und Matthias Steinberger wollen mit ihrem Telefonzellenprojekt Vergangenheit und Zukunft verknüpfen.

Miriam Worek (Mitte), Philipp Engelhardt (links) und Matthias Steinberger wollen mit ihrem Telefonzellenprojekt Vergangenheit und Zukunft verknüpfen.

(Foto: Stephan Rumpf)

Ein besonderer Münzfernsprecher verbindet in Giesing Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Initiatorin des Projektes ist es wichtig, dass alle Menschen daran teilhaben können.

Von Veronika Ebner

Es begann auf einem Bauernhof in Niederbayern. Etwas verwaist stand sie seit 1999 in einem Kuhstall und war dazu abkommandiert, Milchpumpen aufzubewahren. Über Ebay-Kleinanzeigen fand die alte gelbe Telefonzelle schließlich ihren Weg zu Miriam Worek, Initiatorin des "Zeitkapsel"-Projekts. "Das war ein echter Glücksgriff! Die Telefonzellen haben heute einen Sammlerwert, es gibt nicht mehr viele, und die hier war noch gut in Schuss", erzählt die 28-Jährige.

Begehrt seien die Kabinen als Gartenduschen, Kleiderschränke oder Bücherregale. Nun gibt es dank der Kunstpädagogin und Soziologin auch eine modifizierte Telefonzelle, in der man frei nach der Science-Fiction-Kultserie "Doctor Who" durch die Zeit reisen kann.

Auf dem Giesinger Grünspitz startete das Kunstprojekt am Pfingstwochenende mit einem in diesen Zeiten üblichen "Soft-Opening". Bis 10. Juli bietet die Zeitkapsel tagsüber ein Portal in die Vergangenheit. Danach kann man die Gegenwart erkunden und von Ende August an schließlich in die Zukunft reisen. Öffnet man heute die schwere gelbe Tür und begibt sich in den ein Quadratmeter großen Raum, taucht man ein in das alte Giesing, von dem audiovisuelle Beiträge erzählen. Auf dem eingebauten Bildschirm, dem das klassische Telefon weichen musste, begegnet man etwa Carla Obermüller, Giesings Mutter Courage, gewinnt Einblicke in Küchen entlang der "Tela", der Tegernseer Landstraße, oder wird Augenzeuge der Geschehnisse rund um den illegalen Abriss des Uhrmacherhäusls.

In zufälliger Reihenfolge werden die rund 70 Beiträge abgespielt, ganz ohne Hierarchie. Sie dauern zwischen einer und 55 Minuten, denn von kurzen Videos bis hin zu vollständigen Dokumentarfilmen ist alles dabei. Der Zeitreisende hat über ein Touch-Bedienfeld die Möglichkeit, jederzeit zu pausieren, zum Anfang des Videos zurückzuspulen oder zum nächsten zu springen. "Gerade jetzt während der Pandemie passiert eigentlich nichts mehr zufällig", meint Miriam Worek, die seit acht Jahren in Giesing lebt. Es fehlten die zufälligen Begegnungen, das Hineinstolpern in eine Performance, die kurzen persönlichen Gespräche auf der Straße - "Momente dazwischen" nennt es Worek. Die Zeitkapsel soll nun solche Quervernetzungen im Viertel wieder befördern.

Für die weiteren Phasen - Gegenwart und Zukunft - befüllen hauptsächlich Neuproduktionen und weniger Archivmaterial die Zeitkapsel. Es wird Beiträge von Menschen mit Behinderung geben, von Schülern, von Architekturstudenten, von Künstlern. Aktuell läuft auch noch eine Kooperation mit der Stadtbibliothek Giesing. Beim Malwettbewerb "Die Bibliothek der Zukunft" können Kinder noch bis 30. Juni ihre Zeichnungen einreichen, die dann in einen Zukunfts-Beitrag verwandelt werden. In der letzten Phase beschäftigen sich Utopien, Dystopien und Visionen mit der Frage, in welchem Giesing man leben möchte.

Telefonzellen sind zwar nicht mehr oft zu sehen - doch sie blieben den Menschen vertraut

Miriam Worek ist es wichtig, dass verschiedene Nutzergruppen mit ihrem Projekt in Kontakt kommen. "Ich möchte auch Menschen einbinden, die nicht in die Kammerspiele oder eine künstlerische Zwischennutzung gehen", sagt die Initiatorin. Der Grünspitz mit seiner diversen Besucherschaft sei deshalb der ideale Ort für ihre Installation. Sie habe schon bei mehreren niederschwelligen soziokulturellen Aktionen mitgewirkt, erzählt die Soziologin. Mit der Zeitkapsel konnte sie jetzt ein Herzensprojekt umsetzen: "Wenn der rumänische Domino's-Pizzafahrer mit der experimentellen Videoanimation vom Ella-Lingens-Platz in Kontakt kommt und der hippe 1860er-Fan mit dem Abriss des Uhrmacherhäusls, dann ist das Konzept für mich aufgegangen."

Aber warum eigentlich eine Telefonzelle? "Es ist ein Objekt, das vielen Menschen noch vertraut, aber aus dem öffentlichen Raum weitgehend verschwunden ist", deshalb irritiere die Kabine, glaubt Worek. Wie um diesen Punkt zu unterstreichen, fragt eine Passantin mit Hund, ob man denn hier tatsächlich telefonieren könne. "Nein, nur Videos gucken", antwortet die Künstlerin. "Telefonzellen waren früher Orte, an denen über räumliche Distanz Nähe hergestellt wurde", im Zuge der Pandemie sei diese Frage der Distanzüberwindung sehr aktuell. Die Zeitkapsel reaktiviere die damalige Funktion und mache die Bewohner mit ihrem Viertel vertraut. Im Gegensatz zu früher, braucht man heute aber keine Münzen für diese Telefonzelle.

Das "fliegende Dach" solle zum Verweilen einladen, erklärt der Künstler Philipp Engelhardt, der für die äußere Gestaltung der Kapsel zuständig war. Inspiriert habe ihn dabei das Art Déco und die besonders in den Fünfziger- und Sechzigerjahren beliebte Vordächer-Architektur. Angebracht und mit LEDs versehen haben sie die Konstruktion erst, nachdem Steinmetze aus Giesing das 280 Kilogramm schwere Objekt mit einem Kranwagen am Grünspitz platziert hatten, erzählt Matthias Steinberger, der technische Leiter des Projekts. Vom Glaser bis zum Schlosser wurde stets der lokale Fachhandel einbezogen.

Nach der Finissage Ende September geht es für die gelbe Telefonzelle zurück auf einen Bauernhof, diesmal in Rosenheim. Dort beginnt sie ihren Winterschlaf. Wer weiß, an welchem Ort die Kapsel im nächsten Jahr erwacht.

Näheres unter http://zeitkapsel.tel/

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