Chen Reiss hat Erfahrung mit geistlicher Musik. Die 1979 in Israel geborene Sopranistin hat 2014 etwa bei der Weihnachtsmesse im Petersdom vor Papst Franziskus gesungen. "Geistliche Musik singe ich am allerliebsten", sagt sie, "allerdings fast nur die des Christentums", fügt sie an und lacht. Denn ein bisschen skurril ist das für sie als Jüdin schon. Dass sie bis vor kurzem eigentlich nie sakrale Musik des Judentums gesungen habe, habe einen einfachen Grund: In orthodoxen Synagogen dürften Frauen nicht singen.
Der Lebensweg von Chen Reiss ist zunächst auch der einer klassischen Sängerin westlicher Prägung. Sie studierte in New York. Anschließend begann sie ihre Karriere 2002 im Ensemble der Bayerischen Staatsoper. Später machte sie sich selbstständig und sang ganz verschiedene, viel gelobte Partien an den großen Opernhäusern der Welt. Doch abseits vom Glamour ist da eben etwas anderes: "Die Oper zeigt die irdische, direkte und körperliche Seite des Menschen, die Lieder reflektieren die intellektuelle, poetische Seite", erklärt sie. In der geistlichen Musik aber spiegele sich die Seele des Menschen.
Hier geht Chen Reiss' Musikverständnis über das Weltliche hinaus. "Wenn ich geistliche Musik singe, dann verschwindet der Stress und die Anspannung", sagt sie, dann könnte alles passieren, auf dieser Ebene könnten Verbindungen und ja, Frieden zwischen den Menschen entstehen. Gläubig ist sie, aber nicht in einem religiös definierten Sinn. "Ich bin ein sehr spiritueller Mensch", erklärt sie, sie glaube an eine höhere Ordnung, eine Art Schicksal.
Während ihrer Zeit beim Militär sang Chen Reiss das erste Mal jüdische Musik.
Da in Israel auch Frauen Militärdienst leisten, lernte Chen Reiss während ihrer Zeit dort israelische Volkslieder kennen; eigentlich die erste jüdische Musik, die sie gesungen hat. Erst kürzlich aber hat sie dann zum ersten Mal auch in einer Synagoge gesungen. Während der Liturgie. Vor einigen Wochen heiratete ihr Neffe in London. Und die Familie bat sie, das Gebet zu singen. "95 Prozent der Gebete in den Synagogen singen immer noch Männer", erklärt sie. "Das 'Stabat Mater' ist mir so vertraut", sagt sie, aber die Musik der jüdischen Liturgie lerne sie gerade erst kennen. Dass sie nun erstmals in einem jüdischen Gottesdienst gesungen hat, habe sie stark berührt. Den Rabbiner übrigens auch. Der hat sie eingeladen, im Herbst beim Gottesdienst zum jüdischen Neujahrsfest zu singen.
In München wird sie nun auch jüdische Musik singen. Gemeinsam mit dem Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM) tritt sie bei dessen Festkonzert zum Jubiläumsjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" auf. Der Part, den sie in diesem Konzert übernimmt, ist noch einmal ein komplett anderer. Doch auch hier geht es um Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlungen.
"Jüdische Musik ist ein großes Mosaik", sagt sie. Und dann beginnt sie erst einmal auszuholen. Erklärt, wie das jüdische Volk vor 2000 Jahren nach der Zerstörung des Zweiten Tempels über die ganze Welt zerstreut wurde. Und wie verschiedenartig die jüdische Musik deshalb sei. Auch die liturgische. Ein Rabbiner im Jemen singe zum identischen Gebet eine andere Melodie als sein Kollege in Berlin. Auch schon vor der Staatsgründung Israels waren Juden aus vielen Teilen der Welt eingewandert. Die Musiker brachten ihre jeweiligen musikalischen Prägungen mit ein. Wie vielschichtig und unterschiedlich der Klang moderner und zeitgenössischer jüdischer Musik ist, zeige sich etwa am Komponisten Paul Ben-Haim, der vor dem Naziterror nach Palästina geflohen war. Der in Deutschland geborene Jude war zunächst von der Spätromantik beeinflusst. "Seine frühen Sachen klingen wie Richard Strauss", sagt Chen Reiss. In seinen späten Stücken hört man arabische Einflüsse oder Rhythmen vom Balkan heraus. Ben-Haims Musik ist auch Teil des Festprogramms.
"Wenn Fanny ein Mann gewesen wäre, würde sie zu den großen Komponisten des 19. Jahrhunderts gehören."
Doch Chen Reiss hat sich gemeinsam mit Daniel Grossmann, dem Chefdirigenten und künstlerischen Leiter des JCOM, der Musik Fanny Hensels angenommen. Die Schwester von Felix Mendelssohn-Bartholdy wurde in eine Familie bereits zum Christentum konvertierter Juden hineingeboren. Fanny Hensels künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten waren im 19. Jahrhundert aber hauptsächlich deshalb eingeschränkt, weil sie eine Frau war. "Wenn Fanny ein Mann gewesen wäre, würde sie zu den großen Komponisten des 19. Jahrhunderts gehören", sagt Chen Reiss. Doch eine Karriere in der Musik oder die Veröffentlichung ihrer Kompositionen waren ihr zu Lebzeiten weitgehend untersagt worden.
"Fanny Hensel hatte das Talent, eine ganz besondere Stimmung zu erzeugen", erklärt Reiss. Die Musik habe eine gewisse "Süße", sei aber nie kitschig. "Man hört, dass das eine Frau geschrieben hat." Und das ist in der klassischen Musik nun einmal etwas wirklich Seltenes. Der israelische Komponist Tal Samnon hat nun einige der Lieder Fanny Hensels orchestriert, ihnen durch die verschiedenen instrumentalen Stimmen mehr Farben beschert. Diese wird Reiss nun in München mit dem JCOM aufführen, eine CD damit haben sie auch gemeinsam aufgenommen.
Die Musik Fanny Hensels klingt dabei nicht erkennbar jüdisch. "Sie klingt sehr deutsch", sagt Reiss, anders als Gustav Mahler, der zwar auch konvertierte, in dessen Musik aber deutliche Einflüsse von Klezmer zu hören sind, haben Hensel und Mendelssohn ganz in der deutschen Tradition komponiert. Und trotzdem, vielleicht auch genau deshalb gehört die Musik der beiden ganz explizit zur jüdischen Musiktradition und zum jüdischen Leben in Deutschland.
Jüdisches Leben - ein Festkonzert, Mo., 19. Juli, 20 Uhr, Philharmonie, Gasteig, Rosenheimer Str. 5, auch im Live-Stream unter www.youtube.com/watch?v=yBHCjijGNQg .