Der 21. Mai 2019 ist kein guter Tag für Wahlkampf. Es regnet, und über den Münchner Marienplatz spazieren auch nur wenige Passanten, aber es hilft ja nichts. Im Rathaus beschließt an jenem Dienstag der Stadtrat, dass die meisten Eltern künftig nichts mehr für den Kindergarten bezahlen sollen. Und während sich drinnen die Stadträte aller Fraktionen einig sind, dass sie Familien entlasten wollen, beginnt draußen schon der Deutungskampf, ein knappes Jahr vor der Kommunalwahl: Die Eltern sollen nicht nur Geld sparen, sondern sie sollen auch erfahren, bei wem sie sich dafür bedanken sollen.
Im Regen auf dem Marienplatz steht an diesem Vormittag Kristina Frank, die OB-Kandidatin der CSU. Sie hat sich neben ein großes Wahlplakat gestellt, auf dem unter einem CSU-Logo "Kindergartengebühren abgeschafft! Versprochen gehalten" zu lesen ist. Außerdem hat sie Handzettel mitgebracht und einen blauen Regenschirm. Doch ganz so einfach ist es nicht: Während Frank in die Kameras der Presse-Fotografen lächelt, stiehlt sich im Hintergrund ein Mann im roten Anorak ins Motiv, in einer Hand ein Pappschild von der SPD, in der anderen ein roter Schirm. Er und fünf weitere Parteigenossen versammeln sich zu einer Miniatur-Gegenkundgebung. Ihre Botschaft ist: Nicht die Schwarzen haben's erfunden, sondern die Roten.
Freilich, dieses Geplänkel im Regen ist nur eine Posse gewesen. Aber es hat zumindest eines gezeigt, nämlich dass der Stadtrat auch über familienpolitische Themen streiten kann - und wenn es auch nur darum geht, welche Partei eine Idee zuerst hatte. Denn inhaltlich gibt es im Stadtrat ansonsten kaum Dissens. Die großen Beschlüsse der vergangenen Amtsperiode sind meist einstimmig gefallen, ob es - wie im Mai - um die Abschaffung von Kita-Gebühren ging, um milliardenschwere Schulbauprogramme oder darum, sich an bayernweiten Modellversuchen zu beteiligen und zum Beispiel eine flexiblere Form der Ganztagsschule auszuprobieren.
Es ist offenbar nicht zu übersehen, dass München vor großen Herausforderungen steht. Die Stadt wächst, sowohl durch anhaltenden Zuzug als auch aus eigener Anstrengung. Im Jahr 2018 kamen 17 587 junge Münchner zur Welt; im Jahr 2000 waren es nur etwas mehr als 12 000 gewesen. Seither hat die Stadt in fast jedem Jahr einen neuen Geburtenrekord verzeichnet. Und weil häufig beide Elternteile arbeiten müssen oder wollen, spüren das nicht zuletzt die Kindertagesstätten: In München leben derzeit alleine 49 366 Kinder im Kindergartenalter, zur Jahrtausendwende waren es noch rund 36 000. Die Stadt sowie freie Träger haben seitdem viel Geld investiert und die Zahl der Kindergartenplätze von einst 27 647 auf jetzt 46 100 fast verdoppelt; die Zahl der Krippenplätze ist sogar von 4366 auf 22 600, also auf mehr als das Fünffache gestiegen.
Doch wer einen Kita-Platz sucht, braucht noch immer gute Nerven. Die Zahl der Plätze ist zu gering, es fehlen Erzieherinnen und Erzieher, die Platzvergabe über das Online-Portal "Kita Finder" zieht sich oft hin. Und viele Eltern, die einen Kindergartenplatz gefunden haben, erleben bei der Einschulung eine böse Überraschung. Denn mehr noch als Kindergartenplätze fehlen Hortplätze. So existiert derzeit für immerhin 93 Prozent der Münchner Kinder im entsprechenden Alter ein Platz im Kindergarten; bei Grundschulkindern reicht das Angebot an Betreuungsplätzen aber nur für 80 Prozent - und ein knappes Drittel davon entfällt auf Mittagsbetreuungen, die oft schon am frühen Nachmittag schließen und daher nicht für alle Familien infrage kommen.
Es gibt also ein großes Loch zu stopfen, und die Stadt steht unter Druck: Von 2025 an soll bundesweit jedes Grundschulkind einen Rechtsanspruch auf einen ganztägigen Betreuungsplatz haben. Bislang gibt es für 36 400 Münchner Grundschüler einen solchen Platz; bis 2025 rechnet das Bildungsreferat damit, dass 8000 zusätzliche Plätze benötigt werden.
Der Ausbau läuft bereits: So ist der Anteil der Grundschüler mit Ganztagsunterricht seit 2014 von 4,4 Prozent auf aktuell 13 Prozent gestiegen. Zudem erproben derzeit bereits zehn Grundschulen das Modell "Kooperative Ganztagsbildung", bei dem Eltern flexibel Betreuungszeiten buchen können. Dieses Angebot soll später einmal flächendeckend sein, doch der Weg dahin ist noch weit. Insgesamt gibt es in München 137 öffentliche Grundschulen.
Es habe lange gedauert bis zum Kooperativen Ganztag, räumt die Dritte Bürgermeisterin Christine Strobl (SPD) ein. Doch sie nimmt die Stadt auch in Schutz. "Man kann im Nachhinein immer sagen: Die haben geschlafen." Doch man habe sich eben an Prognosen orientiert, und mit dem Geburten-Boom habe niemand gerechnet. Und die Stadt habe daraus gelernt, sagt Strobl: Sie setze nicht mehr auf prognostizierte Zahlen, sondern baue einfach immer weiter, bis der Bedarf irgendwann gedeckt sei.
Strobl ist im Stadtrat von Beginn an eine Vorkämpferin gewesen für die Gleichberechtigung und die Förderung von Frauen und Familien. Im März scheidet sie nach 30 Jahren im Stadtrat, davon 15 als Bürgermeisterin, aus der Politik aus. Und sie findet, die Situation bessere sich bereits. Sie erhalte erheblich weniger Briefe von Eltern, die verzweifelt einen Krippen- oder Hortplatz suchen als noch vor wenigen Jahren, sagt sie. "Natürlich erreicht mich nur die Spitze des Eisbergs." Manchmal sei die Not groß. Doch sie merke auch, dass die Ansprüche steigen.
Wenn Eltern sie per Brief um Hilfe bitten, höre sie etwa immer wieder von der Elternberatung, dass die Väter und Mütter bereits Angebote abgelehnt hätten - und nicht immer seien die Begründungen für sie nachvollziehbar. Einmal sei vorgebracht worden, der Garten der Kita sei noch nicht fertig, daher wolle man eine andere. Mehrmals habe sie auch erlebt, dass Eltern eine Kita mit dem Argument abgelehnt hätten, dort seien zu viele Kinder mit Migrationshintergrund.
Als Strobl 1990 erstmals in den Stadtrat einzog, gab es in München kaum Krippenplätze; Eltern hätten genommen, was sie eben bekamen. Sie selbst habe für ihr erstes Kind nur eine Krabbelgruppe gefunden, erzählt sie; bei der Betreuung half ihr ihre Mutter. Das zweite Kind bekam einen Krippenplatz; Strobl musste dafür aber jeden Tag zwei Stunden lang durch die Stadt fahren.
Seit dieser Zeit hätten sich die Debatten verändert, sagt Strobl. Die Kostenfreiheit etwa sei damals kein Thema gewesen - allerdings wohl auch, weil die Lebenshaltungskosten, vor allem die Mieten, niedriger waren. Dafür hätten die Stadträte noch darüber gestritten, ob sie für Kinder unter drei Jahren überhaupt Betreuungsplätze schaffen sollten, denn die gehörten doch heim zur Mutter, habe es von Konservativen geheißen. Das würde heute niemand mehr offen äußern, sagt Strobl.
Tatsächlich herrscht in den Programmen der Parteien zur Kommunalwahl große Einmütigkeit. Mit wenigen Ausnahmen und von Details abgesehen, fordern alle einhellig mehr wohnortnahe Betreuungsplätze. Meist heißt es auch, diese sollten flexibler gebucht werden können als bisher, damit auch im Schichtdienst tätige Eltern Familie und Beruf miteinander vereinbaren könnten. Im Wahlkampf spielt das Thema Familien daher bislang kaum eine Rolle - und wo doch, kommt es zuweilen zu fast schon skurrilen Situationen.
Im Dezember 2019 etwa lud die Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege mehrere Stadtratskandidaten ins Café Glockenspiel am Marienplatz, um über deren Pläne in der Sozial- und Familienpolitik zu diskutieren. Die Verbände forderten unter anderem wohnortnahe Kita-Plätze und Bildungsangebote, die Spaß machen - alles wenig kontrovers. Und die Kommunalpolitiker äußerten sich ebenso. Ob nun Beatrix Burkhardt (CSU) gesprochen hatte, Verena Dietl (SPD) oder Sebastian Weisenburger (Grüne): Nach ihren Reden erhielten sie alle sehr freundlichen Applaus. Auch von der politischen Konkurrenz.