Süddeutsche Zeitung

40 000 protestieren auf dem Münchner Königsplatz:"Weil ich meine Zukunft bewahren will"

Zur Klimademo in München kommen wesentlich mehr als erwartet. Und das "in einer Stadt, in der fast jeder drei Porsche fährt", wie TV-Entertainer Joko Winterscheidt den 40 000 Menschen zuruft.

Von Jakob Wetzel

Auf der Ludwigstraße kommt der Zug ins Stocken, es sind einfach zu viele Menschen auf der Straße. Eigentlich wollten die Demonstranten durch die Theresienstraße ziehen und zurück zum Königsplatz, wo die Kundgebung begonnen und wo sich der Zug vor knapp zwei Stunden in Bewegung gesetzt hat. Doch der Königsplatz ist immer noch voller Menschen, die darauf warten, sich einzureihen - die Demonstration läuft Gefahr, sich selbst zu blockieren. Am Ende gehen sie durch die Schellingstraße, nicht durch die Theresienstraße. Sie müssen einen größeren Bogen machen, damit überhaupt alle Demonstranten Platz auf der Straße haben.

40 000 Menschen haben am Freitagmittag in München laut Polizei mit "Fridays for Future" für mehr Klimaschutz demonstriert; die Veranstalter sprechen sogar von 60 000 Teilnehmern. Angemeldet hatten sie lediglich 10 000. Kurz vor dem Beginn des Klimagipfels der Vereinten Nationen in New York an diesem Samstag hatte "Fridays for Future" weltweit zum Klimastreik aufgerufen. Der Bewegung zufolge gab es Demonstrationen in rund 150 Ländern; in Deutschland, wo an diesem Freitag das Klimakabinett der Bundesregierung Vorschläge für den Klimaschutz präsentiert hat, gingen demnach in mehr als 550 Städten Menschen auf die Straße. Für München war es eine der größten Demos der vergangenen Jahrzehnte.

Im Vorfeld hatten nicht nur die Schülerinnen und Schüler von "Fridays for Future" zur Kundgebung aufgerufen. Auch Eltern, Wissenschaftler, ein Bündnis von Firmen und Vereinen, Gewerkschaften und andere hatten sich angeschlossen.

Der Königsplatz füllt sich am Freitag bereits eine halbe Stunde vor dem Beginn der Kundgebung um zwölf Uhr Mittag. Mittendrin steht Elena Balthesen von "Fridays for Future München". "Es ist ein ganz anderes Gefühl als bei den anderen Demonstrationen, es ist größer", sagt sie. Bereits im Mai hätten sie mit der Organisation begonnen - und nun würden sie sich schon seit dem Morgen gegenseitig Teilnehmerzahlen aus anderen Städten zurufen, etwa aus Melbourne. Wirklich zuversichtlich sei sie aber nicht. "Wir fordern seit einem halben Jahr eine Steuer auf CO₂-Emissionen, und die muss kommen. Mit einem Preis von 180 Euro pro Tonne CO₂", sagt sie. Ein Emissionshandel wirke, wenn überhaupt, viel zu spät. "Wir brauchen Klimaschutz jetzt." Später wird bekannt, was das Klimakabinett vorschlägt: einen Kompromiss aus Zertifikatehandel und CO₂-Steuer. Und der Einstiegspreis pro Tonne soll bei nur zehn Euro liegen.

Kai Zosseder, Hydrologe an der Technischen Universität München, verteilt auf dem Königsplatz Handzettel der "Scientists for Future". Dass über eine CO₂-Steuer überhaupt diskutiert werde, sei ein Fortschritt, sagt er. Doch solange sich die Lobbystrukturen nicht veränderten, bleibe die Politik einfach zu zaghaft. Die Vorschläge des Klimakabinetts kennt er noch nicht, aber er wisse schon jetzt, dass sie zu kurz greifen würden, sagt er. Die Proteste würden weitergehen.

"Es ist fünf Minuten nach zwölf! Die Klimakrise hat bereits begonnen!" Mit diesen Worten beginnt wenig später die Kundgebung. Und Michael Sterner macht den Jugendlichen Mut. "Ihr seid die wichtigste Jugendbewegung seit den 1960er Jahren", ruft der Professor für Energiespeicher an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg. Die Jungen sollten kritisch bleiben, alles hinterfragen, ihre Perspektive und damit die Perspektive der Zukunft einbringen und auch selbst das Klima schützen. Und als die Aktivisten dann "What do we want? Climate Justice!" skandieren, schreit auch der zehnjährige Jesper mit; er besucht die fünfte Klasse. "Ich bin hier, weil ich meine Zukunft bewahren will", sagt er. "Wenn die Welt zwischen 2050 und 2100 untergeht, ist das halt blöd." Wenn die Politik auf die Mehrheit der Bevölkerung hören würde, die einen raschen Ausstieg aus der Kohle wünsche, würde sie bessere Entscheidungen treffen, findet Jesper. Er sagt, er sei nicht zum ersten Mal bei einem Klima-Protest, und er wolle weiterhin hingehen, obwohl ihm Verweise drohen. Diesmal habe sein Schulleiter immerhin Kurzunterricht angeordnet. Auch seine Mutter hat sich für den Klimastreik freigenommen.

Eine halbe Stunde später setzt sich der lange Zug dann in Bewegung. Es ist eng, die Demonstration ist nichts für Klaustrophobiker. Immer wieder müssen die Menschen stehen bleiben und warten, laut Polizei bleibt aber alles friedlich. Unterwegs kleben Aktivisten Aufkleber auf parkende SUVs; "Ich liebe dich. Aber ich hasse dein Auto", steht auf ihnen. Und an der Ludwigstraße Ecke Theresienstraße haben Aktivisten von "Extinction Rebellion" einen Galgen gebaut. Darunter stehen eine Frau und zwei Männer, Schlingen um die Hälse, auf Eisblöcken. Schmilzt das Eis, ziehen sich die Schlingen zu. Damit sie nicht abrutschen, tragen die Aktivisten Steigeisen.

Als der Demonstrationszug um etwa 15.20 Uhr wieder den Königsplatz erreicht, hat das Ende des Zugs den Platz gerade erst verlassen. Am Ende steht TV-Entertainer Joko Winterscheidt als Überraschungsgast auf der Bühne. "40 000 Menschen auf der Straße, wer hätte das gedacht!", ruft er. "In einer Stadt, in der fast jeder drei Porsche fährt."

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SZ vom 21.09.2019/syn
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