Dass er nicht mehr sehr lange leben würde, war ihm und seiner Frau klar. Aber, sagt sie, nach der Operation sei er wieder optimistisch gewesen, voller Energie und Elan, überzeugt, dass die Amputation seines linken Oberschenkels ihm wenigstens genug Zeit verschafft hat, um nach Hause zurückzukehren und dort irgendwann sterben zu können. "Wir waren guter Dinge", sagt seine Frau. Bis sich sein Zustand plötzlich rapide verschlechterte. Wenige Tage später starb Hannes Bluhm, 71, Unternehmer aus Coburg, auf einer Intensivstation des Universitätsklinikums in München-Großhadern. "Qualvoll", sagt seine Frau.
Das war am späten Nachmittag des 8. Januar 2017. Anderthalb Jahre später sitzt Anke Bluhm (Namen des Ehepaares geändert) in der Kanzlei ihres Rechtsanwaltes, des Coburger Medizinrechtlers Wolfgang Hacker. Auch hinter ihr liegt ein Leidensweg, wenn auch anderer Art. Seit anderthalb Jahren fordert sie von der Klinik vergeblich, was ihr gesetzlich zusteht: die vollständige Patientenakte ihres Mannes.
Sie will herausfinden, woran er letztlich gestorben ist und ob es Fehler in seiner Behandlung gab. Doch die Klinik lässt Anke Bluhm ins Leere laufen, hält sie hin, speist sie mit wenig aussagekräftigen Unterlagen ab, legt fragwürdige, weil vielleicht erst im Nachhinein erstellte Dokumente vor, gibt widersprüchliche Auskünfte oder solche, die sich im Nachhinein als falsch erweisen.
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Statistiken zu Ärztepfusch und unnötigen Komplikationen sind wichtig, doch die Dunkelziffer ist weitaus höher. Dabei gäbe es eine Strategie.
Längst keimt in der resoluten Frau der Verdacht, "dass da etwas schiefgelaufen ist und nun womöglich vertuscht werden soll". Das ist eine Möglichkeit. Eine andere wäre, dass es in einer der größten deutschen Kliniken zu gewaltiger Schlamperei gekommen ist im Umgang mit Patientendaten. Die Klinik äußerte sich auf eine detaillierte SZ-Anfrage nicht.
Anke Bluhm ist vom Fach. Als examinierte Krankenschwester hat sie früher selbst acht Jahre lang im Klinikum Großhadern gearbeitet. Einen Arbeitgeber, "über den ich nichts Schlechtes sagen kann, im Gegenteil". Sie hat ihren Mann in seinen letzten Tagen begleitet und sie sagt, sie habe den Ärzten und Pflegern immer wieder fachliche Hinweise gegeben oder Bitten geäußert, die aber häufig ignoriert worden seien. Zum Beispiel der Wunsch, einen Nieren- und einen Herzspezialisten hinzuzuziehen, denn ihr Mann war Dialysepatient.
Nach seinem Tod beschloss sie, einen Beschwerdebrief an den Klinik-Vorstand zu schreiben. Dazu wollte die Coburgerin nur noch den medizinischen Abschlussbericht abwarten, wie er üblicherweise nach dem Tod eines Patienten erstellt wird. Als der Bericht ausblieb, rief Anke Bluhm zum ersten Mal in Großhadern an.
Was sich in den folgenden Monaten zutrug, dürfte am Ruf einer Universitätsklinik nagen, die sich selbst zu den "ersten Adressen in Europa" zählt. "Das Klinikum versucht, sich mit abenteuerlichen Argumenten aus der Verantwortung zu reden", sagt Bluhms Rechtsanwalt Wolfgang Hacker. "Dabei ist Frau Bluhms Anspruch so klar im Gesetz festgeschrieben, dass sich daran nichts deuteln lässt." Immer wieder hat er darauf verwiesen und bei der Klinik nachgehakt. Zurück kamen bestenfalls lose Bruchstücke der Patientenakte Bluhm. Die wesentlichen Teile fehlen bis heute.
Die Korrespondenz mit der Klinikverwaltung gipfelte Hacker zufolge in deren Rat, "doch jede der 29 Fachkliniken, elf Institute und sieben Abteilungen des Klinikums einzeln anzuschreiben und um Übersendung der Akte zu bitten". Ein Riesenaufwand, den der Anwalt nicht nur als völlig unüblich, sondern auch nicht konform mit dem Patientenrechtegesetz ablehnte.
Zwischendurch rückte die Uniklinik auch fragwürdige Dokumente heraus. Etwa einen Pflegeverlegungsbericht, in dem steht: "Wir verlegen heute Herrn Hannes Bluhm." Beigefügt ist ein schriftlicher Befund mit dem Briefkopf des habilitierten Leiters einer chirurgischen Intensivstation scheinbar vom selben Tag. Demnach wurde der Patient Bluhm, im Brief des Professors als "Frau" bezeichnet, am 25. Mai 2018 verlegt. Doch zu diesem Zeitpunkt war Hannes Bluhm bereits mehr als ein Jahr und vier Monate tot.
"Es steht zumindest der Verdacht im Raum, dass das Dokument erst nachträglich erstellt wurde", sagt Anwalt Hacker. Wenn ja, von wem und warum? Und wenn es nur ein Versehen war, warum ist das Datum auf dem Bericht dann gleich mehrfach falsch? Alles nur Zufall? Schlamperei? Auch dazu äußert sich die Klinik nicht.
Rätselhaft ist auch, weshalb das Hospital gegenüber Bluhm zwischenzeitlich behauptete, die Patientenakte ihres Mannes sei nicht mehr auffindbar, weswegen man seinen Aufenthalt auch nicht bei dessen privater Krankenkasse habe abrechnen können. Dabei lag der Witwe bereits eine solche Abrechnung über mehr als 61 000 Euro vor. Auch dazu will ein Kliniksprecher auf Anfrage nichts sagen.
Das Schweigen der Klinik in dem Fall begründet er mit der "anhängigen Klage". Denn zwischenzeitlich hat Anke Bluhm die Uniklinik vor dem Amtsgericht München auf Herausgabe der Patientenakte verklagt. Kommenden Donnerstag will das Gericht eine Entscheidung verkünden.
Nur - was geschieht, wenn diese zwar zugunsten der Klägerin ausfällt, die Klinik aber weiter angibt, die Akte sei nicht mehr zu finden? Ausgerechnet jene, die relevant wäre, wollte die Witwe die Behandlung ihres Mannes im Nachhinein von Sachverständigen auf etwaige Fehler überprüfen lassen und gegebenenfalls Schadenersatz fordern? Womöglich liefe das Ansinnen von Anke Bluhm dann ins Leere, Patientenrechtegesetz hin oder her. Dem Klinikum würde ein Imageschaden drohen, aber wohl keine Schadenersatzklage.
Ist das Patientenrechtegesetz also ein stumpfes Schwert? "Es ist ein Fortschritt, dass der Anspruch des Patienten oder seiner Hinterbliebenen auf Einsicht in seine Patientenakte gesetzlich klar festgeschrieben ist", sagt Medizinrechtler Hacker. "Aber das Risiko, dass Betroffene damit am Ende nichts anfangen können und eben nicht klären können, was passiert ist, besteht weiter."
Die Causa Bluhm ist kein Einzelfall. Die Unabhängige Patientenberatung in Deutschland (UPD), eine gemeinnützige Verbraucherschutzorganisation, die von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert wird, berichtet von fast 2300 Beratungen allein 2017 zum Thema Einsicht in die Patientenakte. "Immer wieder berichten Patienten davon, dass sie sich hingehalten fühlen oder befürchten, an den Akten könnten zwischenzeitlich Veränderungen vorgenommen worden sein", so ein UPD-Sprecher. Wo Appelle an die Klinik nicht reichen, rät er zur Klage. "Die Aufbewahrungspflicht für Patientenakten beträgt zehn Jahre. Die Klinik hat also diesbezüglich besondere Sorgfaltspflichten."