Notfallmedizin:"Man vergisst schnell, dass das ein Spiel ist"

Ärzte und Pfleger im Klinikum Bogenhausen trainieren für den Notfall.

Wiederbelebung bei voller Fahrt: Dass das alles hier nur eine Übung ist, sieht man keinem der Ärzte und Pfleger an.

(Foto: Robert Haas)

Nicht einmal jeder Fünfte überlebt, wenn er im Krankenhaus einen Herzkreislaufstillstand erleidet. Ein spezielles Training für Ärzte und Pfleger im Klinikum Bogenhausen soll das ändern.

Von Kathrin Aldenhoff

Die Pfleger und der Arzt rennen in Richtung Klinik. Zu dritt schieben sie in größter Eile ein Krankenbett über den Gehweg, in Richtung Aufzug. Oben auf dem Bett kniet ein zweiter Arzt. Er kämpft um das Leben des Mannes, den sie gerade leblos im Raucherbereich vor dem Krankenhaus gefunden haben. Der Arzt hat seine Hände aufeinandergelegt und drückt den Brustkorb des Patienten zusammen. Fünf bis sechs Zentimeter tief, das muss er schaffen, damit die Herzmassage etwas bringt, das kostet Kraft. Alle Vier haben rote Backen, sind völlig außer Atem, als sie endlich im Keller des Krankenhauses angekommen sind, im Schockraum 2, nach dem Eingriffsraum und dem Gipsraum gleich links. Ein zweites Team übernimmt, die anderen wischen sich den Schweiß von der Stirn, schnaufen tief durch. Dass das alles hier nur ein Spiel ist, eine Übung, das sieht man keinem von ihnen an.

"Wir retten nicht täglich akut Leben, das ist eher die Ausnahme", sagt Oberärztin Elisabeth Roßbach-Wilk vom Notfallzentrum des Klinikums Bogenhausen. "Das muss man trainieren. Wenn man übt, dann wird man besser. Und man kann immer etwas besser machen." Sie und Florian Lemmink, der Gruppenleiter der Pflege im Notfallzentrum, proben den Notfall jeden Monat mit Ärzten und Pflegern. Teilnehmen können auch Mitarbeiter von anderen Standorten der München-Klinik. Die Warteliste ist lang. So lang, dass vom kommenden Jahr an zwei Trainingstage im Monat angeboten werden, und sie sollen dann auch eine Stunde länger dauern.

Nicht einmal jeder fünfte Patient, der in einem deutschen Krankenhaus einen Herzkreislaufstillstand erleidet, überlebt. Das geht aus dem Jahresbericht des Deutschen Reanimationsregisters hervor. Dort steht zwar auch, dass es noch schlechter aussieht, wenn das außerhalb eines Krankenhauses passiert - dann überleben nur 13,2 Prozent der Betroffenen einen Herzkreislaufstillstand.

Zumindest die Überlebenschancen im Krankenhaus wollen sie in Bogenhausen verbessern. Drücken, drücken, drücken. Florian Lemmink wiederholt das immer wieder. Die Herzdruckmassage ist das Wichtigste, wenn ein Patient wiederbelebt werden muss. Wichtiger als das Beatmen, wichtiger als die Adrenalinspritzen. So viel sei verraten: An diesem Übungstag überleben alle. Der Diabetespatient, der rauchende und lungenkranke Bauarbeiter und der Mann mit dem Herzinfarkt in der Tiefgarage.

Die Freude darüber, dass sie es geschafft haben, ist echt bei den Teilnehmern. "Man vergisst schnell, dass das ein Spiel ist", sagt Michael Koeppel. Als Arzt im Notfallzentrum erlebe er zwei bis drei solcher Situationen im Monat - öfter als seine Kollegen auf anderen Stationen. Das Training findet er trotzdem wichtig. "Wenn man übt oder den anderen dabei zusieht, erkennt man, woran man denkt und woran man nicht denkt. Es ist wichtig, dass wir das regelmäßig durchspielen."

Begonnen hat der Tag mit viel Theorie. Florian Lemmink hat neue Studienergebnisse und Leitlinien zitiert, kollabierte Lungen beschrieben und versprochen: "Wir zeigen euch nachher noch mal ein Kammerflimmern am offenen Herzen" - ein Versprechen, das vermutlich nur Mediziner begeistert. Und er hat vor dem Einsatz des Defibrillators später im Schockraum gewarnt: "Wir geben heute reale Schocks ab, bitte Hände weg!"

"Danke Team, das war chaotisch"

Im Schulungsraum wartet schon "Herr Müller" auf seine Rettung. Alle dürfen ihn retten, einer nach dem anderen. Herr Müller ist eine lebensgroße Puppe im Jogginganzug, und laut dem Übungsprotokoll ist er auf einer Station des Krankenhauses plötzlich bewusstlos geworden. Ein Arzt und ein Pfleger machen den Anfang: Einer drückt, der andere legt einen Beatmungsbeutel an. "Ihr seid beide so einen Hauch in Zeitlupe", kommentiert Elisabeth Roßbach-Wilk. Einer Pflegerin rät sie, sie solle ihre langen Haare zusammenbinden - "das sieht gut aus, ist aber unpraktisch". Eine andere soll nicht neben dem Bett stehen bleiben, während sie drückt, sondern sich aufs Bett knien - "man drückt einfach besser dann". Dem Nächsten sagt die Oberärztin trocken: "Nicht zu weit unten drücken, sonst fängt Herr Müller an zu spucken."

Im Schockraum 2 des Notfallzentrums wartet der nächste künstliche Patient: eine knapp 60 Kilogramm schwere Puppe, der sie den Namen Simon gegeben haben. Simon ist neu, heute ist das erste Training mit der Puppe, die atmen kann, einen Puls und Herzgeräusche hat, und an deren linkem Arm man ihren Blutdruck messen kann. "Bitte nicht den neuen Hoody aufschneiden", sagt Elisabeth Roßbach-Wilk noch, die rote Trainingsjacke haben sie der Puppe extra gekauft, damit sie nicht nur mit Shorts bekleidet im Krankenhausbett liegt. Pfleger und Ärzte werden Simon in den nächsten Stunden mehrere Zugänge legen, sie werden echte Medikamente aufziehen und spritzen - allerdings nur mit den rosa Nadeln, ordnet Florian Lemmink an - sonst müsse er der Puppe gleich neue Venen kaufen. Und sie werden ihr, wenn nötig, auch Elektroschocks verpassen.

Notfallmedizin: Das ist Simon, der künstliche Patient: Er atmet, hat einen Puls und Herzgeräusche, und an seinem linken Arm kann man den Blutdruck messen.

Das ist Simon, der künstliche Patient: Er atmet, hat einen Puls und Herzgeräusche, und an seinem linken Arm kann man den Blutdruck messen.

(Foto: Robert Haas)

Im Schockraum 2 landen die schwersten Fälle: Patienten, die reanimiert werden; die mehrere Verletzungen zum Beispiel nach einem Verkehrsunfall haben; die, bei denen nicht klar ist, ob sie überleben werden. Wer außer Lebensgefahr ist, wird auf eine andere Station verlegt. Simon, die Puppe, wird erst einmal nicht verlegt. Erste Übung, Simon stellt einen übergewichtigen Mann Mitte sechzig dar. Der klagt über Schmerzen zwischen den Schulterblättern, sagt, er habe Probleme, Luft zu holen. Kurze Zeit später verliert er das Bewusstsein. Es piepst, laut und durchdringend, ein regelmäßiges Piepsen, das sofort klarmacht: Hier stimmt was nicht. Eine Lampe am Überwachungsmonitor blinkt rot, eine Pflegerin kniet sich aufs Bett und drückt Simons Brustkorb zusammen, ein Arzt sucht das Beatmungsgerät, ein anderer klebt um die Hände der Pflegerin herum die Pads des Defibrillators auf den Brustkorb.

Das Gerät analysiert den Herzrhythmus, rät zum Schock. Hände weg, das Team schockt, dann wird weiter gedrückt, ein anderer Pfleger übernimmt. "Etwas tiefer drücken", ruft Florian Lemmink von der Seite, "und denkt an die Thoraxentlastung!" Mehrere Schocks, Untersuchungen und eine Adrenalinspritze später zeigt der Monitor wieder den Sinusrhythmus - den Rhythmus, in dem ein menschliches Herz schlagen soll. "Danke Team, das war chaotisch", sagt Michael Koeppel und zieht die Handschuhe aus. Elisabeth Roßbach-Wilk sagt: "Ich fand es nicht so chaotisch."

Die Schwierigkeitsstufe steigt, nach der Mittagspause müssen die Teams einen Patienten aus dem Raucherbereich vor dem Krankenhaus retten, vor den Augen der Passanten mit der Wiederbelebung beginnen und weiter drücken, während sie das Bett mit dem Patienten in den Schockraum schieben. Sie müssen daran denken, Umstehende zu fragen, ob sie etwas beobachtet haben, das erklären könnte, warum der Mann nicht mehr atmet und keinen Puls mehr hat.

"Das ist nur eine Übung!", ruft Florian Lemmink einem Patienten zu, der besorgt schaut, als Simon an ihm vorbei Richtung Aufzug geschoben wird. Kurz darauf der nächste Einsatz: Ein Mann liegt leblos auf dem Gelände des Hubschrauberlandeplatzes. Alle Situationen, die Florian Lemmink im Training nachstellt, hat er als Pfleger selbst erlebt, erzählt er. Und dass dieses Training wirklich etwas verändere. "Wenn die Ärzte und Pfleger so ein Training hatten, dann ist die Angst, ranzugehen, weg. Das gibt viel Sicherheit." Den ersten Trainingseffekt merkt er schon jetzt, nach einem halben Tag: Er muss kaum mehr mahnen, den Brustkorb tiefer einzudrücken oder auf Entlastung zu achten. "Sie drücken alle schon viel besser", sagt er und läuft dem Rettungsteam hinterher, das den Patienten schon in Richtung Schockraum fährt.

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