Süddeutsche Zeitung

Missbrauch in der katholischen Kirche:"Mein Täter hat mich auch geliebt und hat mir von Gottes Liebe zu mir erzählt"

Was macht Missbrauch mit dem Glauben? Betroffene sprechen über die Verbrechen durch Priester und sagen Erzbischof Marx, was sie brauchen: Kein Mitleid, sondern Räume, um Konflikte auszutragen.

Von Bernd Kastner

Es ist von Schmerz, aber auch von Vertrauen die Rede an diesem Abend, von Hoffnung und vor allem vom Glauben. "Was hält mich im Leben?" Fragen wie diese gebe es, wenn das Grundvertrauen eines Menschen gebrochen ist, sagt Barbara Haslbeck. "Warum hat Gott das zugelassen?"

Antworten müsse jeder Mensch für sich selbst finden, jeder, der betroffen ist von sexuellem Missbrauch. Es gebe nicht den oder die Betroffene, sie "sind so unterschiedlich wie alle Menschen", sagt sie. Andere könnten diese Betroffenen unterstützen, ohne sie zu bevormunden. Der Schlüssel für ein gelingendes Begleiten sei "Leidenssensibilität". Barbara Haslbeck hat genau diese Sensibilität, man hört und spürt es.

"Betroffene hören" ist der Abend im Künstlerhaus überschrieben, was doppeldeutig zu verstehen ist: Betroffene von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche werden gehört und hören selbst, was andere über sie sagen und denken, zum Beispiel der Erzbischof. Das Münchner Bistum hat eingeladen, viele Betroffene sind vermutlich im Publikum, es geht um die Frage, was der Missbrauch mit dem Glauben der Missbrauchten macht. Es ist die erste derartige Veranstaltung, sie geht maßgeblich auf die Initiative des 2021 gegründeten Betroffenenbeirats zurück.

"Mein Täter hat mich auch geliebt und hat mir von Gottes Liebe erzählt."

Dem Gremium gehört Moderator Richard Kick an. Er fragt, ob es für Frauen besonders schwer sei, über das Erlittene zu sprechen. Für Kirchenverantwortliche sei es noch neu, sagt Haslbeck, dass sich auch Frauen zu Wort melden, es gebe noch zu viele Klischees über sie. Zum Beispiel, dass erwachsene Frauen doch "nein" sagen könnten. Genau dies sei aber nicht der Fall, sagt Haslbeck, die in der "Initiative Gottessuche" Betroffene begleitet. Für Frauen gelte dasselbe wie für Kinder und Jugendliche, die auch meist nicht nein sagen, weil eine Abhängigkeit vom Täter entstanden sei.

Kai Christian Moritz vom Betroffenenbeirat auf Bundesebene sieht sich selbst als "Überlebender". Er erinnert an die vielen Ungehörten: Wo bleiben jene Überlebenden, die das Thema Glaube überhaupt nicht interessiere, geschweige denn theologische Fachfragen? Als Schauspieler und Sänger thematisiert er auch die "Kontamination von Sprache": "Mein Täter hat mich auch geliebt und hat mir von Gottes Liebe zu mir erzählt", sagt Moritz. Gleichzeitig habe er ihn, den Jungen, vergewaltigt.

Wie kann kirchliche Sprache, wie Beten, wie Kirche nach solchen Verbrechen "noch funktionieren"? Es gehe nicht allein um die aktiven Täter, sondern auch um die passiven. Moritz gibt aus einem Kinofilm über Missbrauch im US-Bistum Boston eine Szene wieder, in der es heiße: Es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Und es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind zu missbrauchen. Das Schweigen der Vielen ermögliche viele Verbrechen. Damit wolle er nicht die Verantwortung einzelner Verantwortungsträger kleinreden, aber auf spiritueller Ebene stünden alle Glaubenden vor einer großen Aufgabe.

Der Opfer-Seelsorger war als Ministrant selbst von einem Priester missbraucht worden

Ganz konkret will Thomas Semel bald im abstrakten Raum des Glaubens arbeiten. Der Priester will Mitte des Jahres sein Amt als Dekan aufgeben, um im Ordinariat auf einer neue Stabsstelle die Seelsorge für Missbrauchsbetroffene aufzubauen, es sei bundesweit die erste dieser Art. Für sie gebe es bisher viel zu wenig solcher Angebote. Er, der als Ministrant über Jahre von einem Priester missbraucht wurde, wolle die Aufgabe "aus eigener Kompetenz" heraus angehen.

Für sein Leben habe er eine Überschrift gefunden: "Trotzdem". Das gelte auch für seinen Weg in der Kirche: "Trotzdem bin ich Teil dieser Kirche, bin ich auch Teil dieser Täterorganisation", sagt Semel, obwohl er diesen Begriff nicht möge. Man dürfe nicht alle Priester über einen Kamm scheren. Er habe gelernt, dass er längst nicht der einzige betroffene Priester sei. Erst jüngst habe er von einem Priester aus einer anderen Diözese eine E-Mail bekommen; der Kollege habe geschrieben, dass er einfach nicht mehr könne. "Die Mail kam mir wie ein Hilferuf vor."

Der Mann, dessen Aufgabe es ist, im Bistum solche Hilferufe zu hören, sitzt mit auf dem Podium: Reinhard Marx, seit 43 Jahren Priester, seit 2008 Erzbischof von München und Freising, Auftraggeber zweier Gutachten, die 2010 und 2022 ein systematisches Vertuschen der Verbrechen über Jahrzehnte auch in der Münchner Diözese beschreiben.

Marx sagt an diesem Abend, was er in den vergangenen zwölf Jahren, seit der Missbrauchsskandal im öffentlichen Licht ist, schon oft gesagt hat. Dass für ihn das Jahr 2010 ein Einschnitt gewesen sei. Dass er inzwischen das systemische Versagen klar erkenne. Dass er das Gesamtsystem Kirche in Frage gestellt sehe: Den Menschen zu sagen, "wir haben einige Leute, die wissen, wie Gott über euch alle denkt", das sei "verheerend". Dieses Denken lade zu Missbrauch ein. Er, sagt Marx, lade alle Betroffenen ein, "mit dem Bischof, mit den Verantwortlichen zu reden". Es gelte, auch das Unangenehme anzuhören, selbst wenn jemand "eine Geschichte zum vierten Mal erzählt". Solche Gespräche mit Betroffenen habe er in der Vergangenheit zu selten geführt. "Das habe ich versäumt."

Barbara Haslbeck ist es, die auch positive Veränderungen hervorhebt. Dass sich in den vergangenen paar Jahren Angehörige immer neuer Betroffenen-Gruppen trauen und melden, Frauen, Ordensfrauen, Erwachsene und eben auch Priester. An die Verantwortlichen appelliert sie, die individuellen Bedürfnisse wahrzunehmen. "Betroffene wollen kein Mitleid", sie wollten "nicht beseelsorgt werden", sie bräuchten "keine spirituellen Trostpflaster". Sondern Resonanzräume, wo sich auch Konflikte austragen lassen, Räume zum Hören.

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