Gewalt in städtischen Kinderheimen:Es lohnt sich, auch die Gegenwart auszuleuchten

Marie Mattfeld Haus, 2021, Oberammergau

Die Aufarbeitung der Vorwürfe kommt spät.

(Foto: Natalie Neomi Isser)

Die Aufklärung von Verbrechen an Kindern in Einrichtungen der Stadt München kommt reichlich spät. Das birgt eine sehr reale Gefahr.

Kommentar von Rainer Stadler

Das Versprechen der Stadt klingt überzeugend: Bereits im November soll eine Kommission damit beginnen, Verbrechen gegen frühere Heimkinder aufzuklären, die sich zwischen 1945 und 1999 in Obhut des Münchner Jugendamts befanden. Der Stadtrat betont, wie wichtig es sei, die dunkle Vergangenheit auszuleuchten und Betroffene zeitnah zu entschädigen. Wie wahr.

Doch die schwierige Arbeit kommt erst. Vieles, was ehemalige Heimkinder vor Jahrzehnten in städtischen Einrichtungen oder Heimen unter städtischer Aufsicht an Missbrauch und Misshandlung erlitten haben, wird sich kaum rekonstruieren lassen. Akten des Jugendamts? Sind ausgedünnt, verschwunden oder wurden gar nicht erst angelegt. Die Erinnerungen der Betroffenen? Häufig ungenau. Potenzielle Zeugen und Täter? Nicht mehr greifbar oder verstorben. Vor diesem Hintergrund dürfte es auch höchst kompliziert werden, strukturelles Versagen von Behörden nachzuzeichnen oder gar Netzwerke aufzudecken, über die Täter womöglich Information austauschten und sich gegenseitig Kinder zuführten - was als Verdacht zumindest im Raum steht.

Die Gefahr ist sehr real, dass die Kommission am Ende ihrer Arbeit einen Schlussbericht präsentiert, der kaum tiefer schürft als die Berichte, die viele Einrichtungen der häufig (zurecht) gescholtenen katholischen Kirche vorgelegt haben - allerdings schon vor einem Jahrzehnt.

Wenn die Kommission tatsächlich eine neue Facette zur Aufarbeitung der Verbrechen gegen Heimkinder beitragen will, lohnt es sich, nicht nur in der Vergangenheit zu graben, sondern auch die Gegenwart auszuleuchten: Warum hat die Stadt nicht schon 2010 reagiert, als der Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen wie auch in der Odenwaldschule publik wurde? Wie kann es sein, dass erst vier Jahr später ein Untersuchungsbericht zu den städtischen Einrichtungen vorlag? Haben die Auftraggeber der Studie wirklich an das Bild geglaubt, das dort gezeichnet wird - das Bild eines bunt-fröhlichen Heimalltags, leicht getrübt durch bedauerliche Einzelfälle von Gewalt und Missbrauch?

Für das Verständnis der Taten von damals sind auch diese Fragen zentral. Und die Chancen, sie zu beantworten, wären ungleich größer: Zeugen und Verantwortliche gibt es, sie müssen nur befragt werden.

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