Süddeutsche Zeitung

München:Kartografie eines besonderen Orts

Im Alten Botanischen Garten ballen sich Leben und Geschichte. Mit Teppichgesprächen, Performances und Installationen sind ihm Künstlerinnen und Künstler nähergekommen

Von Lea Hruschka

An Fotomotiven mangelt es dem Alten Botanischen Garten am Stachus wahrhaftig nicht. Touristen grinsen regelmäßig vor dem Neptunbrunnen oder der Blütenpracht der Schmuckbeete in die Kamera. Ein völlig anderes Motiv hat an diesem Vormittag Anna Lena von Helldorff entdeckt. Sie lichtet die braunen Rinnen ab, die das dichte Grün des Rasens durchbrechen. "Sie werden immer tiefer", meint von Helldorffs Begleiterin Frauke Zabel. Katharina Weishäupl entdeckt noch eine zweite Spur. Ein großer Polizeiwagen wende dort täglich, berichten die drei Künstlerinnen vom Verein Kunstpavillon. Sie kennen die Grünanlage bis in die letzte Blütenspitze, denn sie beschäftigen sich seit rund einem Jahr mit dem Ort, seiner Nutzung und Geschichte. In Teppichgesprächen, Spaziergängen, Lesungen oder Performances prägen sie den Ort seit Mitte Juli auch selbst mit. Materiell manifestiert sich ihr Wirken im Garten in acht Sitzbänken sowie mobilen Möbelelementen des Künstlers Rasso Rottenfusser, die "die Nutzungen ergänzen, erweitern, Lücken schließen", sagt von Helldorff. Es sei keine klassische Kunst im öffentlichen Raum, das aus einem Objekt bestehe, meint Zabel. "Wir sind eher forschend, mit dem Ort in Kommunikation." An diesem Samstag, 4. September, werden sie einen Überblick über ihre Beobachtungen der vergangenen eineinhalb Monate geben.

Die tägliche Routine des Polizeiautos hat Anna Lena von Helldorff bereits im Billboard verewigt, das auf der Kunst-Insel am Lenbachplatz steht. Das Schild zeigt eine Kartografie des Alten Botanischen Gartens. "Eine Bestandsaufnahme", erklärt sie. Eine Palme ragt am oberen Teil der Karte heraus. Johann Baptist von Spix und Carl Philipp Friedrich von Martius hatten sie nach ihrer Brasilien-Reise von 1817/1820 nach München entführt, wo sie bis heute steht. Das Abbild der Pflanze ist keine Hommage an die beiden Naturforscher, sondern vielmehr ein erster Hinweis auf die kritische Auseinandersetzung der Künstlerinnen mit den kolonialen Einflüssen, die den Alten Botanischen Garten prägen. Die Kontakte des Kunstpavillons reichen dafür bis nach Brasilien: Adriana Schneider Alcure und Eleonora Fabião aus Rio de Janeiro haben für den Verein ein Video aufgenommen, das zusammen mit weiteren Kurzfilmen an diesem Samstag an der Außenwand des Pavillons gezeigt wird. Auch die Ergebnisse eines Spaziergangs mit Kunsthistorikerin Leonie Chima Emeka bereitet Zabel neu auf.

Die zeitlichen und kulturgeschichtlichen Schichtungen des Gartenbestands wollen die Künstlerinnen damit öffentlich machen, erklärt Zabel. "Nicht ohne Bewertung", fügt von Helldorff hinzu. Die Kritik schwingt mit, wenn Zabel quer über den Lenbachplatz auf einen Turm zeigt, den letzten Rest der Maxburg. In ihr hätten die beiden Forscher Spix und Martius nach ihrer Rückkehr aus Brasilien zusammen mit zwei indigenen Kindern gewohnt. An Martius wird mit einer Statue im Alten Botanischen Garten erinnert. "Und wie viele Gedenkorte gibt es für die beiden Kinder?", fragt Zabel. Den Einfluss des Nazi-Regimes, das Kunstpavillon, Neptunbrunnen und Park Café erbauen ließ, thematisieren die Akteurinnen ebenfalls. Als eine Touristin nach einem Foto vor dem Brunnen fragt, antwortet Zabel im Scherz: "Wissen Sie denn, wer den gebaut hat?", und knipst das Foto. Belehrend wollen die Künstlerinnen nicht sein.

Stattdessen ergäben sich in der Wechselwirkung zwischen Garten, Besuchern und Künstlern Situationen, die das Wesen des Parks zum Vorschein bringen. So reiste die Schauspielerin Zennure Türe aus Istanbul an, um im Alten Botanischen Garten auf dem fünf mal drei Meter großen Teppich zu performen. "Aber er war schon besetzt", erinnert sich von Helldorff, "von einer Frau, die aus dem Raster gefallen ist." Ob obdachlos oder nicht, darüber ließe sich nur mutmaßen. Sicher sind sich die Künstlerinnen aber, dass die Fremde Publikumserfahrung hatte. Denn statt Türe performte plötzlich die Frau auf dem Teppich. Die türkische Performerin habe sich nicht stören lassen, sondern die Frau mit einer "Art von Frauensolidarität" in ihren Auftritt integriert, freut sich Zabel.

Schließlich ist der Alte Botanische Garten nicht nur eine urbane Ruheoase für Touristen in bester Lage zwischen Lenbachgärten und Shopping-Mall. Er ist auch ein sogenannter Brennpunkt und Drogenumschlagplatz. Zur besseren Fahndung hat die Polizei einen Bauzaun am Weg parallel zur Elisenstraße aufgebaut. Man frage sich schon, warum sich die Stadt mit den Schmuckbeeten so viel Mühe gebe und dann einen Zaun aufstelle, der das Ambiente stört, so Zabel. An diesem Samstag werden Zeichnungen der Künstlerin Anna Giller den Zaun zieren. "Dann lassen wir es drauf ankommen", meint Weishäupl und hofft, dass niemand eines der Kunstwerke mitnimmt.

Ein paar Meter weiter, am Karl-Stützel-Platz, sitzen zwei junge Männer auf gestapelten Münchner Gehwegplatten. Auch hier hat der Verein den öffentlichen Raum umgestaltet. Die Installation der studentischen Gruppe "New Futures" werde rege genutzt", freut sich Zabel. Auch das erste Teppichgespräch habe dort stattgefunden. Mit Bezirksausschussmitglied Florina Vilgertshofer (Grüne) haben die New Futures diskutiert, wie der Platz besser nutzbar ist. Den gesamten Garten wollen die Akteurinnen mit funktionalen Installationen, wie den mobilen Sitzbänken, dauerhaft verbessern. Das sei das, was den Verein langfristig interessiere, sagt Frauke Zabel und zeigt auf einen Bau von Rasso Rottenfusser: "Gerade sind wir noch mit dem Trinkwasserspender beschäftigt."

Am Samstag, 4. September, zeigen die Akteurinnen bei Spaziergängen von 12, 15 und 18 Uhr an die Ergebnisse ihrer Auseinandersetzung mit dem Alten Botanischen Garten. Von 20 Uhr an gibt es zudem ein Treffen am Karl-Stützel-Platz mit Ton und Musik. Außerdem werden Videos und Soundinstallationen gezeigt, Anmeldung nicht erforderlich.

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Quelle:
SZ vom 04.09.2021
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