Süddeutsche Zeitung

Kritik:Kind, gib' a Rua

"10 Vaterunser" erinnert an den Münchner Kammerspielen an die polnischen Zwangsarbeiter im Dritten Reich.

Von Egbert Tholl, München

Am Anfang hört man ein Telefonat. Christiane Huber ruft eine alte Frau Huber an - Mutter, Oma, Tante, weiß man nicht, spielt aber keine Rolle. Es geht um das Eintauchen in eine etwas tiefer liegende Generationenschicht. Auf jeden Fall will die jüngere Frau Huber, Regisseurin gebürtig aus der Gegend Altötting/Burghausen, etwas wissen. Bairisch reden die beiden Frauen, insistierend die Junge, abwehrend, fast unwirsch werdend die Alte. Wie war das damals? Was war damals? Wer hat den polnischen Arbeiter erschlagen? War es ein Mord oder ein Unfall?

Die Antworten lauten: I waas von derer G'schicht nix, man red' ned drüber, damit a Rua is, des is a ganz a unguate Sach', und jetzt kemmst du daher. Wenn überhaupt jemand etwas Genaues wisse, dann hat er es gewusst und ist jetzt tot. Ist ja auch lang her, das mit den Zwangsarbeitern, die man aus Polen, der Ukraine oder auch aus Frankreich mit Lastwagen nach Deutschland holte, damit sie die Arbeit machten, für die die Männer nicht mehr da waren, weil die ja Hitlers Vernichtungskrieg führen mussten.

"10 Vaterunser" heißt die Aufführung, die Christiane Huber im Werkraum der Münchner Kammerspiele zeigt. Dafür hat sie in ihrer Heimat und auch in Polen mit Zeitzeugen gesprochen und daraus ein Tableau der Erinnerungen gebaut, die viele für immer vergessen wollten. Die Schauspielerinnen Maria Hafner (die auch schön Akkordeon spielt), Anna Maria Sturm und Weronika Zalewska tragen diese Erinnerungen vor, als fielen sie ihnen im Moment ein, während sie auf der Bühne mit krachenden Ketten gedrechselter Holzstücke herumfuhrwerken. Harte Arbeit neben dem Kramen im eigenen Kopf, das funktioniert sehr gut. Man hört von Morden, von den Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter, kriegt ein Gefühl dafür, wie unterschiedlich hier die Wahrnehmung und die Erinnerung sind.

Am Ende liest Sturm eine Viertelstunde lang die Namen der 160 Babys von Zwangsarbeiterinnen vor, die in der zynisch sogenannten "Ausländerkinderpflegestätte" zu Tode kamen. Eine notwendige Litanei, der aber jede Kraft fehlt, weil man den Eindruck hat, Sturm lese die Namen und Lebensdaten der als ihre eigene Souffleuse in der ersten Reihe sitzenden Christiane Huber vor - die zuvor dringliche Lebendigkeit wird, leider, so zur abstrakten Statistik.

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