Süddeutsche Zeitung

Münchner Kammerspiele:Das Fenster zum Ich

Welche Daten hinterlässt ein Mensch? Bei einem Stadtraum-Projekt der Kammerspiele schickt das Künstlerkollektiv Laokoon das Publikum auf digitale Spurensuche - allein in einer Münchner Wohnung. Ein eindrucksvolles Erlebnis.

Von Yvonne Poppek, München

Der fremde Laptop steht aufgeklappt auf dem Tisch. Über den Bildschirm laufen Fotos, von Linn, Max und Philipp. Es ist zumindest anzunehmen, dass sie das sind, schließlich steht man in ihrer Wohnung. Ausgelassene junge Leute sind das, feiern wohl gerne. Das sieht beim Durchlauf der Fotos so aus. Ein kleiner Stups an der Maus, schon verschwindet der Bildschirmschoner und gibt den Blick frei auf die Dinge, die normalerweise nicht für andere Augen bestimmt sind. Mails, Nachrichten vom Messenger-Dienst, ins Internet kommt man auch, sicher sind da irgendwo Passwörter hinterlegt. Neben dem Tisch blubbert ein Aquarium mit Plastikfischen und -pflanzen, auf dem Ledersessel in der Ecke liegen noch Bücher, ein Globus mit Elektromotor dreht sich hin und wieder auf der Fensterbank, das Bett sieht aus, als hätte vor ein paar Minuten noch jemand drin gelegen. Max, so scheint es, ist nur kurz weg. Aber das stimmt natürlich nicht.

Max ist eine Kunstfigur, Max ist auch ein Bot. Soviel ist sicher an diesem Vormittag in der fremden Wohnung in Neuhausen. Aber die Illusion, die hier aufgebaut wurde, ist so detailreich, dass die Geschichte auch stimmen könnte. Irgendwie könnte Max auch real sein, so profiliert ist er. "Wo du mich findest" heißt das Stadtraum-Projekt, das das Künstlerkollektiv Laokoon - bestehend aus Cosima Terrasse, Moritz Riesewieck und Hans Block - an den Kammerspielen verwirklicht hat und in dem es um diesen Max geht.

Das Kollektiv experimentiert mit neuen Formen des hybriden Erzählens, sein Blick auf die sozialen Medien ist dabei kritisch. Beim Projekt "Made to Measure" beispielsweise ging es um die Frage, wie weit sich ein Mensch anhand der bei Facebook und Google gesammelten Daten entschlüsseln lässt. Die Daten, die wir hinterlassen, spielen auch bei "Wo du mich findest" eine Rolle. Doch es geht diesmal nicht um ein Fünf-Jahres-Profil, sondern um die Qualität der Daten, die arglos überall verstreut sind. Und die bei "Wo du mich findest" so widerstrebende Gefühle wie Unbehagen und Neugierde gegeneinander ausspielen.

Das geht übrigens schon los, bevor man allein oder zu zweit überhaupt in Neuhausen angekommen ist. Zunächst einmal braucht man die bei Verschwörungsschwurblern oft genutzte Telegram-App auf seinem Handy. Das ist in diesen Zeiten nicht unbedingt das, was man sich herunterladen will. Aber, so versichert das Theater, sie sei nötig, da sie die technischen Voraussetzungen mit sich bringe, die das Projekt brauche. Beispielsweise sei sie für den "Einsatz von GTP-3 gesteuerten Sprach-Bots" sehr gut geeignet. Und mit so einem Bot beginnt "Wo du mich findest". Telegram ist installiert. Ein, zwei Tage bevor man sich auf die angekündigte Spurensuche begeben will, ploppt die Nachricht auf: "Hi hier ist Max! Schön, dass du Zeit bei uns in der Wohnung verbringen wirst!" Es folgt die Adresse, ein Text mit Smiley. Das könnte es theoretisch gewesen sein. Ist es aber nicht.

Max-Bot, der sich als solcher auch zu erkennen gibt, schickt einem kurze Video-Schnipsel von seinem "Training". Dann auch, mit einem Link versehen: "Ich höre gerade Fisch EP von Tristan Brusch. Was hörst du gerne?" Eh man sich versieht, tauscht man sich mit einem Bot aus: "Fühlt sich ein Bot auch wie ein Fisch im kochenden Wasser?" - "Ne, eigentlich ist alles tutti palutti." - "Tutti palutti finde ich lustig." - "Mein Mangel an Humor ist tragisch." Max oder Max-Bot antwortet zuverlässig innerhalb von wenigen Minuten, vermutlich könnte man die Wartezeit bis zum Aufbruch nach Neuhausen mit derlei Dialogen füllen. Geschickt werden ein paar Identitätsschnipsel von Max eingestreut. Wenn man dann schließlich in die Wohnung aufbricht, hat man den Eindruck, man kennt da wen.

Und dann ist man also schließlich da. Die Wohnung sieht aus wie eine Studenten-WG (Ausstattung: Ji Hyung Nam). Und zwar in der eher nachlässigen Ausführung. Aus dem Schuhregal quillen Schuhe, Post stapelt sich auf dem Flurschränkchen, eine Dreierreihe Theatersessel drängt sich an der Wand. In der Küche wurde zuletzt wohl noch eine Party gefeiert. Oder jemand mag sehr gerne Bier, aber die Pfandflaschenrückgabe eher nicht. Der Kühlschrank ist auch voll, ebenso der Mülleimer mit dem verkrusteten Fleck drumherum. Fotos, Zettel, Socken zum Trocknen - wer jemals irgendwo zur Zwischenmiete in einer WG war, erinnert sich augenblicklich zurück.

Was aber macht man nun da? Max weist einen an, es sich gemütlich zu machen, Kaffee dürfte man sich auch kochen. Es ist absolut klar, dass jeder, der hier eintritt, eine andere Scheu vor den fremden Dingen hat. Obwohl Kulisse wirkt alles überzeugend echt. Und wie jede Wohnung beginnt auch diese, Geschichten zu erzählen. Von Menschen, mit denen man sich gerne umgibt. Von einer Affinität zu sensorgesteuertem Plastikspielzeug. Von Musik, Literatur. Der letzte Kassenbon hängt noch an der Pinnwand, irgendwo gibt es einen Rückzugsort mit Shisha-Peife. Dann klingelt ein Telefon, und schon ist man mittendrin in einer Geschichte, die immer mehr Fahrt aufnimmt und einen über eineinhalb Stunden beschäftigt. Denn: Jemand ist verschwunden, und in der Wohnung gibt es hilfreiche Hinweise.

Was jetzt stark nach einem Escape-Room-Spiel klingt, ist damit nicht vergleichbar. Die in Neuhausen aufgebaute Welt ist eine, auf die man vorbereitet wurde und die auf eine perfekte Illusion abzielt. Man kennt die "Bewohner" aus den Videoclips, die man über Telegram erhalten hat - darin sind unter anderen die Kammerspiel-Schauspieler Vincent Redetzki, Martin Weigel und Gro Swantje Kohlhof zu sehen. Ihre Bilder hängen überall, auch Live-Einspielungen und -Interaktionen gibt es. Die fiktiven Biografien von Linn, Max und Philipp ergeben sich nicht aus ein paar Stichworten, sondern aus vielen klug gebauten Schnipseln. Das hat natürlich einen Grund: Die Kunst-Identitäten sind mit der eigenen vergleichbar. Und deshalb rücken einem die Fragen nach dem Umgang mit den eigenen Daten, überhaupt nach den Spuren, die man in der Welt hinterlässt, sehr nah. So tut es dann auch ein bisschen weh, in dieser Wohnung herumzuschnüffeln, obwohl es ein Kunst-Projekt ist. Denn man erkennt in der eigenen, hier ja beabsichtigten Hemmungslosigkeit auch die der anderen.

Wo du mich findest, Münchner Kammerspiele, verschiedene Termine

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