Münchner Kammerspiele:Seht sie an

Münchner erobern den Laufsteg bei "What is the City but the People". Auf dem Königsplatz zeigen die Kammerspiele mit einer überraschenden Mischung, wie bunt die Stadt ist.

Von Christiane Lutz

Münchner Kammerspiele: Stadt der Vielfalt: Dragqueen trifft Obststandl-Didi.

Stadt der Vielfalt: Dragqueen trifft Obststandl-Didi.

(Foto: Robert Haas)

Das mit dem Applaus, das war vergangenes Jahr eine kurze, seltsame Erscheinung. Damals stellten sich Menschen auf Balkone und klatschten, um "unseren Pflegerinnen und Pflegern" zu danken für ihren unermüdlichen Einsatz während der Pandemie. So hilflos dieser Akt wirkte (von einer Gehaltserhöhung hätte das Pflegepersonal deutlich mehr gehabt), so berechtigt ist der Wunsch nach zweierlei: sehen und gesehen werden. Nicht im Sinne von Blitzlichtgewitter und rotem Teppich, nein, der Wunsch, andere zu erkennen und selbst erkannt zu werden.

So gehen nach einem gigantischen Donnerwetter und dem Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft aus der EM am Dienstag-Abend rund 150 Münchnerinnen und Münchner über einen riesigen, ausschließlich für das Projekt aufgebauten Laufsteg auf dem Königsplatz und die Zuschauer applaudieren ihnen. Einfach so, für ihr Dasein und ihr Sosein. Nach Monaten hinter Masken und in geschlossenen Räumen, der Unsicherheit und vielleicht der Einsamkeit scheint es Menschen enorm gut zu tun, sich zu zeigen, eine Bühne gestellt zu bekommen, einen eigenen Auftritt. Der Applaus, der sich reflexhaft beim Publikum von der ersten Minute an einstellt, als ein kleiner Junge den Abend eröffnet, und der beinahe eine Stunde lang nicht abflaut, ist die Würdigung jedes einzelnen Auftretenden.

Münchner Kammerspiele: Vier Frauen, vier Generationen: Für das Projekt wurden ganz unterschiedliche Menschen gecastet.

Vier Frauen, vier Generationen: Für das Projekt wurden ganz unterschiedliche Menschen gecastet.

(Foto: Robert Haas)

Ohne die Pandemie hätte das Projekt "What is the City but the People" in der Regie von Richard Gregory der Münchner Kammerspiele zwar auch stattgefunden, es war als eine der Eröffnungs-Veranstaltungen im Herbst zu Beginn der Intendanz von Barbara Mundel geplant und auch in einer Mini-Ausgabe vorgestellt, hätte aber vermutlich nicht annähernd jene Wirkung gehabt, die es jetzt hatte. Dass die Künstler des Theaters in diesem Projekt den Menschen der Stadt den Vortritt lassen, ist in dem Fall genau richtig. Denn wahrscheinlich waren Menschen selten erschöpfter, selten haben sie sich mehr danach gesehnt, Anerkennung zu erfahren.

Man kann dieses Auf-und-ab-Spazieren zu empathischem Klatschen durchaus kitschig finden, das Symptom einer hyper gut gelaunten "Du bist okay"-Gesellschaft, in der jeder eine Medaille bekommen soll. Wie bei Castings-Shows, in denen, sobald einer einen geraden Ton rausbringt, sofort tosender Jubel ausbricht. Hier, an diesem Tag und unter diesen Umständen aber funktioniert es mehr wie ein aufmunterndes Schulterklopfen. Ein "Ich sehe dich", ein "Schön, dass du auch Teil dieser Stadt bist" mehr als ein sich einander in der eigenen Großartigkeit Versichern. Ganz nebenbei ist es ein nettes Schaulaufen bekannter und unbekannter Personen der Stadt.

Eine Erzieherin ist dabei, ein Sushi-Koch, ein Barkeeper der Bar Gabanyi, Hellabrunn-Zoodirektor Rasem Baban, Obststandl-Didi, ein Buchhändler, Architekt Peter Haimerl, ein paar Wiesn-Bedienungen, eine Tänzerin, eine Dragqueen, eine Steuerberaterin, eine alkoholkranke Frau, die ein Banner der Anonymen Alkoholiker trägt, eine DJ, eine Designerin, ein Taxifahrer, eine Mutter und ihre Tochter, zwei Freundinnen.

Kleine Träume und gesellschaftliche Visionen von einem besseren Zusammenleben

"What is the City but the People?", übersetzt etwa "Was macht eine Stadt aus, außer ihren Menschen?" ist eine Idee des britischen Konzeptkünstlers Jeremy Deller aus dem Jahr 2017, die bereits in mehreren Städten umgesetzt wurde. Stets werden 150 Menschen gecastet, die auf die eine oder andere Weise für die Stadtgesellschaft stehen sollen, jede und jeder von ihnen geht über den Laufsteg, hier zu experimenteller Live-Musik (Tufan Aydoğan, Mori Dioubaté, Theresa Loibl, Simon Popp, Manu Rzytki), während im Hintergrund riesengroß auf Leinwänden sein oder ihr Foto projiziert ist (tolle Porträts von Josef Beyer und Sandra Singh) und ein Satz, der für sie oder ihn steht. Das sind in München kleine Träume, gesellschaftliche Visionen von einem besseren Zusammenleben, persönliche Anekdoten oder schlicht Ansagen wie "Politik hat in Bars nichts verloren."

Münchner Kammerspiele: Joga und Schuhplattler: Auch das ist München.

Joga und Schuhplattler: Auch das ist München.

(Foto: Robert Haas)

Eine zweite oder gar dritte Ebene hat das Projekt nicht, es ist, was man sieht. Das wird ihm zwischendurch leider zum Verhängnis. Denn nach etwa 45 Minuten springen auf einmal fröhlich winkende Gruppen und Vereine über die Bühne, ohne Texte und Porträts. Alles ehrenwerte Bestandteile einer Gesellschaft, keine Frage, aber an der Stelle franst das Konzept aus. Die erst gut und sensibel kuratierte Auswahl der Münchnerinnen und Münchner wirkt plötzlich extrem beliebig, wenn neben der sonnengrüßenden Yoga-Gruppe auch noch der Schuhplattel-Verein schuhplattelt. Dann erinnert das Ganze mehr an ein Leopoldstraßenfest denn an ein Kunstprojekt.

Aber sei's drum: Für das immer noch neue künstlerische Team der Kammerspiele, das seit rund neun Monaten darauf wartet, sich endlich richtig der Stadt präsentieren zu dürfen und mit ihr in Kontakt zu treten, ist "What is the City but the People" nun der wohlverdiente, lang ersehnte Großauftritt. Ein immer wieder berührender noch dazu.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: