"Hoffnungsträger" 2023:Da bahnt sich etwas Großes an

"Hoffnungsträger" 2023: Um die Verführungskünste der Konsumwelt geht es Nata Togliatti, die auf Umverpackungen malt, hier auf einem Orangensaftkarton das "Mädchen auf dem Topf IV (Premium Saft)" von 2021.

Um die Verführungskünste der Konsumwelt geht es Nata Togliatti, die auf Umverpackungen malt, hier auf einem Orangensaftkarton das "Mädchen auf dem Topf IV (Premium Saft)" von 2021.

(Foto: Nata Togliatti)

Von diesen jungen Künstlerinnen und Künstlern aus München wird 2023 noch viel zu hören sein: Sie schreiben aufsehenerregende Prosa, debütieren bei den Filmfestspielen in Venedig oder schaffen faszinierende Bühnen-, Kunst- und Musikmomente.

Von SZ-Autorinnen und -Autoren

Jovana Reisinger und das Tussi-Tabu

"Hoffnungsträger" 2023: Ein Barbie-Image schaffen, um es sofort wieder zu unterlaufen: Jovana Reisinger.

Ein Barbie-Image schaffen, um es sofort wieder zu unterlaufen: Jovana Reisinger.

(Foto: Friedrich Bungert)

"Die Frau, so wie sie gerade vor ihrem Computer sitzt, schaut auf ihr Leben mit einer aufregenden Art der Entrückung", heißt es zu Beginn des Essaybands "Enjoy Schatz" von Jovana Reisinger, der 2022 erschienen ist. "Es bahnt sich etwas an. Sie weiß nur noch nicht, ob sie wirklich mitmachen will. Sie weiß aber auch, dass sich diese Frage ihr gar nicht stellt."

Natürlich spricht hier "die Schriftstellerin", wie Reisinger distanzierend schreibt. Und man soll Zitate nicht aus dem Zusammenhang reißen, schon gar nicht aus einem Kapitel, das im Frühling spielt und sich mit Sex beschäftigt, Gesamtkomplex: "Explodierende Libido". Was man jedoch guten Gewissens auf die 33-jährige Münchner Schriftstellerin, Filmemacherin und Künstlerin übertragen kann: Da bahnt sich etwas an, seit Jahren. Und man meint zu spüren, dass Reisinger durchaus mitmachen will, und auch, dass sich diese Frage tatsächlich nicht mehr stellt.

Im vergangenen Jahr etwa war Reisinger schon ziemlich sichtbar. Sie stellte das Prequel zu ihrem etwas anderen Heimatfilm "Unterwegs im Namen der Kaiserin" vor - der ganze Film soll 2023 herauskommen. Sie präsentierte, unter anderem beim Literaturfest, den Essayband "Enjoy Schatz", in dem es, wie irgendwie immer in ihren Werken, um das weite Feld Frau und Feminismus geht, um die Macht des Begehrens, die Ohmacht angesichts gesellschaftlicher Zuschreibungen. "Ich bin eine Tussi", mit solchen Sätzen provoziert Reisinger dabei gerne mal und schafft ein Barbie-Image, um es sofort zu unterlaufen.

Dass sie das mit Geschick und Können tut, spricht sich immer mehr herum. Anders gesagt: Jovana Reisinger hat einen Lauf. 2022 hat sie für ihr Prosaprojekt "Großes Zucker Sahne Dilemma" gleich zwei Arbeitsstipendien zugesprochen bekommen, eines vom Freistaat und eines von der Stadt München; das könnte es ihr 2023 erleichtern, den Erzählband fertigzustellen. Ihr Roman "Spitzenreiterinnen" von 2021 schafft es derweil auf die Bühne: Die Premiere ist für Mai am Münchner Residenztheater angesetzt. Ein Film, ein Stück, ein Roman - auch in diesem Jahr wird es also viel Bewegung im Leben von Jovana Reisinger geben. "Die Schriftstellerin will eine Zukunft", schreibt sie passenderweise am Ende des Essaybands. "Sie will nach vorne schauen." Und zitiert einen Glückskeks mit dem Spruch: "Irgendwann wirst du erfolgreich sein." Vielleicht ist dieser Zeitpunkt: jetzt. Antje Weber

Vincent zur Linden und der Doppelpack

"Hoffnungsträger" 2023: Beeindruckend wandlungsfähig: Schauspieler Vincent zur Linden.

Beeindruckend wandlungsfähig: Schauspieler Vincent zur Linden.

(Foto: Magnus Lechner)

Vincent zur Linden ist erst in zwei Inszenierungen am Residenztheater zu sehen - aber schon in vier großen Rollen. Und das ist in allen Fällen ein Glück. Der 1994 geborene Schauspieler hat diese Figuren mit so vielen Facetten ausgestattet, dass man manchmal überlegen muss, ob er nicht doch in weiteren Rollen am Staatsschauspiel zu sehen war. War er nicht, wird er aber bald. Und das ist vermutlich ebenfalls ein Glück.

Linden, geboren in Düsseldorf, studierte von 2013 bis 2017 an der Otto-Falckenberg-Schule. Damals wirkte er schon in diversen Produktionen an den Kammerspielen, dem Volkstheater und der freien Szene mit, bevor er fest in Bielefeld und Basel engagiert war. Zur Spielzeit 2021/22 holte Staatsintendant Andreas Beck ihn ins Ensemble ans Residenztheater - und Linden startete in einer der größten Produktionen, die zugleich zu einer Art Hit in der Stadt wurde: Matthew Lopez' "Das Vermächtnis", einem Stück über Schwulsein in New York, inszeniert von Philipp Stölzl. Was für ein Einstieg!

Der Schauspieler gibt darin die Doppelrolle eines emporkommenden Schauspielers, der jede Ehrlichkeit verliert, und die eines Strichers, dessen Selbstwertgefühl wie ein löchriges Mäntelchen an ihm herabhängt. Zwei konträre Figuren, die Linden mit großer Wandlungsfähigkeit ausfüllt und für die er für den Faust-Theaterpreis nominiert wurde. Auch in seiner zweiten Residenztheater-Inszenierung ist Linden in großer Rolle besetzt. Hausregisseurin Elsa-Sophie Jach verband jüngst Kleists "Käthchen von Heilbronn" mit Christa Wolfs Roman "Kein Ort. Nirgends". Der 28-Jährige übernahm die Rolle des Käthchens und Kleists - erneut zwei Gegensatzpole, den verzweifelt um sich selbst kreisenden Dichter und ein ebenso zerbrechliches wie starkes Käthchen, das wider allen Übels den Glauben an eine größere Idee nicht verliert. Dass diese langsam hohl wird, spielt Linden fein nuanciert mit.

Zwei weitere Rollen am Residenztheater stehen für Linden fest: Ende Januar spielt er in der "Antigone" der slowenischen Regisseurin Mateja Koležnik den Haimon, Sohn des Kreons. Und im März übernimmt er eine tragende Rolle in der Yasmina Reza-Uraufführung "James Brown trug Lockenwickler". Darin ist er der Sohn Jacob, der überzeugt ist, er sei Céline Dion, und der das dementsprechend konsequent und zur Verzweiflung seiner Eltern durchzieht. Jacob als Céline also, fast schon wieder eine Doppelrolle. Gut so. Yvonne Poppek

Nata Togliatti und ihre Früchtchen

"Hoffnungsträger" 2023: Die Künstlerin Nata Togliatti in ihrem Studio.

Die Künstlerin Nata Togliatti in ihrem Studio.

(Foto: privat)

Als die Pandemie Deutschland wieder einmal in einen Lockdown zwang, als alles bis auf Supermärkte mit Gütern für den täglichen Bedarf geschlossen waren, Künstler nicht wussten, wann und wo sie wieder würden ausstellen können, da kam Nata Togliatti auf eine geniale Idee: Kunst als geistige Nahrung im Supermarkt auszustellen - und ausgewählte Stücke zur Unterstützung der Künstlerinnen und Künstler zu verkaufen. "SUPER mARkT-Frische Lieferung" hießt die Aktion im April 2021 in einem Rewe-Markt in den Fünf Höfen in der Innenstadt.

Nicht nur Studierende wie Togliatti selbst, auch ihr Professor Gregor Hildebrandt sowie andere hochrangige Künstlerinnen und Künstler machten mit. Und trotz beschränkten Zugangs - damals unterlag sogar die Kundenzahl in Supermärkten bestimmten Obergrenzen - sahen viele die vielfältige Ausstellung, mit der Togliatti ihr kuratorisches Geschick unter Beweis stellte. Von ihr zu sehen waren Serien auf Umverpackungen (vor allem von Säften), mit denen sie die auf die Reize und Verführungsstrategien der Konsum- und Warenwelt eingeht.

Die Früchte der Verführung in ihrer Polarität von Gut und Böse, Vernichtung und Hoffnung setzt sie in verschiedene Kontexte. Dafür verwendet sie Originalverpackungen, auf denen die Früchte - gerne Orangen und Äpfel, aber auch Gurken und Tomaten kommen vor - als Freisteller die Bildmotive umspielen und Teile der Aufschrift mitunter durchschimmern. Auch wenn das serielle Format an Pop-Art-Siebdrucke à la Warhol erinnert, jedes Werk von Nata Togliatti, die im kommenden Jahr ihr Diplom machen wird, ist ein Unikat.

Aktuell arbeitet die 33-Jährige, die mit sieben Jahren mit ihrer Familie aus Russland kam und in Dortmund aufwuchs, an Rauminstallationen. Im Mittelpunkt stehen weiße Keramikarbeiten von - wie könnte es anders sein - Zitrusfrüchten. Evelyn Vogel

Shuteen Erdenebaatar, das Wunderkind aus der Steppe

"Hoffnungsträger" 2023: Aufstrebendes Münchner Jazz-Talent: Shuteen Erdenebaatar.

Aufstrebendes Münchner Jazz-Talent: Shuteen Erdenebaatar.

(Foto: Nils Kugelmann)

Vor viereinhalb Jahren kam die Pianistin Shuteen Erdenebaatar nach München, im Rahmen der 2014 begonnenen Zusammenarbeit der Musikhochschulen in München und im mongolischen Ulan Bator, aus der auch schon die Sängerin Enji Erkhem oder der Bassist Munguntovch Tsolmonbayar hervorgegangen sind. Damals konnte Erdenebaatar kein Wort Deutsch. Wenn die 24-Jährige heute ein Interview gibt, kann es passieren, dass sie gewandter antwortet, als der deutsche Journalist fragt.

Noch beeindruckender als ihre Sprachbegabung sind freilich ihre musikalischen Talente. Von der Klassik kommend und mit stupender Technik gesegnet, hat sie sich in kürzester Zeit den Jazz-Kosmos zu eigen gemacht und einen eigenen Klavier- wie Kompositionsstil gefunden, einen swingenden, lyrischen Modern-Jazz mit Spurenelementen der Musik ihrer Heimat. Der im Aufbau gerne symphonischen Klangwelten folgt, weshalb Erdenebataar neben ihrer vier- oder fünfköpfigen Band mit etlichen jungen Cracks der süddeutschen Szene inzwischen auch ein 20-köpfiges, genreübergreifend besetztes Kammerjazz-Ensemble unterhält.

Dann gibt es neuerdings noch ihr Duo Lightville mit dem Bassisten und Multiinstrumentalisten Nils Kugelmann, der hier Kontraalt-Klarinette spielt. Der nicht nur in diversen anderen Besetzungen, sondern auch privat ihr Partner ist und der wie sie unter die sonderbegabten, vielversprechendsten jungen Jazzer zu rechnen ist. Alleine wie mit ihm hat Erdenebataar zuletzt reihenweise Lorbeeren eingeheimst, vom Kurt Maas Jazz Award über den Musikförderpreis der Landeshauptstadt München und den Jungen Münchner Jazzpreis bis zum Biberacher Jazzpreis und dem BMW Young Artist Jazz Award. Das Preisträgerkonzert zu letzterem findet am 5. Januar in der Unterfahrt statt, und das dürfte nur der Auftakt zu einem aufsehenerregenden Jahr sein. Schon weil nicht nur ihr Debüt, sondern vermutlich sogar zwei Alben erscheinen werden. Oliver Hochkeppel

Alex Schaads Filmdebüt geht unter die Haut

"Hoffnungsträger" 2023: Gefragter Mann: der Münchner Regisseur Alex Schaad.

Gefragter Mann: der Münchner Regisseur Alex Schaad.

(Foto: X Verleih)

"Leyla, wo sind wir hier", fragt ein Mann namens Tristan (Jonas Dassler) seine Freundin (Mala Emde). Ja, wo sind sie hier? Das möchte auch das Publikum wissen, das dem Paar dabei zusieht, wie es auf eine Insel reist und freundliche Kommunarden trifft. Vielleicht sind es auch Hippies, Schamanen oder Körperdiebe, das lässt sich nicht genau klären. Tristan wird also noch mehr Fragen stellen, selbst wenn er nicht immer wie Tristan aussieht.

"Aus meiner Haut" heißt das Spielfilmdebüt des Münchner Regisseurs Alex Schaad, Premiere feierte es im September bei den Filmfestspielen in Venedig. Dort wurde es mit dem Queer Lion ausgezeichnet. Dieser Preis gibt auch einen Hinweis darauf, wohin die Reise der beiden geht: Leyla und Tristan lernen ein Paar namens Fabienne und Mo kennen (Maryam Zaree und Dimitrij Schaad) und tauschen ihre Körper. In Tristan steckt also bald Mo, in Leyla Fabienne - und bald wird noch viel mehr getauscht.

Alex Schaad hat gemeinsam mit seinem Bruder Dimitrij das Drehbuch geschrieben. Die beiden sind in Kasachstan geboren und kamen als Kinder nach Deutschland, sie wuchsen in der schwäbischen Kleinstadt Mengen auf. Als der fünf Jahre ältere Dimitrij zum Schauspielstudium nach München ging, folgte ihm Alex. Er begann ein Regiestudium an der HFF München, gemeinsam schrieben sie das Drehbuch zu "Invention of Trust", den Alex inszenierte und in dem Dimitrij die Hauptrolle spielte. Der Kurzfilm gewann 2016 den "Studenten-Oscar" in Gold.

Dimitrij Schaad wurde bald darauf Film- und Serienstar ("Die Känguru-Verschwörung", "Kleo"), während sein Bruder sein Debüt vorbereitete. "Aus meiner Haut" ist ein Film, der das Publikum herausfordert, er schlägt Haken und lässt sich nicht einordnen. Er habe sich am Anfang überlegt, sagt der Regisseur, was passiere, wenn eine Beziehung eine größere Veränderung durchläuft. So entwickelte sich die Geschichte der fluiden Identitäten. "Kann sich unser Körper an die Entwicklung unserer Persönlichkeit anpassen?", fragt Alex Schaad. Sein Film ist ein faszinierendes Gedankenspiel, Kinostart ist im Februar. Vor kurzem drehte er für das ZDF zwei Filme der "Nord Nord Mord"-Reihe. Der 32-Jährige ist also ein gefragter Mann, hoffentlich auch bald wieder im Kino. Josef Grübl

Lotte Friederich, Jacob Brass und das Gespür für Pop

"Hoffnungsträger" 2023: Lotte Friederich macht unter ihrem Künstlernamen "Loriia" eingängigen Kammerpop. Jetzt arbeitet sie mit dem Songwriter Jacob Brass zusammen.

Lotte Friederich macht unter ihrem Künstlernamen "Loriia" eingängigen Kammerpop. Jetzt arbeitet sie mit dem Songwriter Jacob Brass zusammen.

(Foto: Niklas Reinfelder)

Ein letzter Gitarrenakkord, der Hall des Keyboards verstummt langsam. "Viele, viele gute Momente", sagt Jacob Brass. "Wie hat es dir gefallen?", fragt er. "Mega", antwortet Lotte Friederich. Hier in Untergiesing entsteht gerade, abseits der öffentlichen Wahrnehmung, Popmusik, die man so nicht in München erwartet. Musikproduzenten haben hier in der Konradinstraße ihr Studio, Musikerinnen und Musiker geben hier Unterricht - und in dieser kreativen Umgebung sind sich Sängerin Lotte Friederich, die man in München unter ihrem Künstlernamen Loriia kennt, und der Singer-Songwriter Jacob Brass begegnet.

Der Musiker war und ist immer noch eine der großen Pophoffnungen Münchens. Sein Debütalbum "A Stubborn Child" nahm er in London in den Abbey Road Studios auf, er stand im Vorprogramm von Katie Melua und Tina Dico auf den großen Bühnen, er schrieb Filmmusik und arbeitete als Musikcoach in einer großen TV-Castingshow - und der 37-Jährige begleitet Schriftsteller Benedict Wells musikalisch bei dessen Lesungen. Lotte Friederich wiederum hat Jazz-Gesang in München studiert, nahm ihre erste Platte im Portmanteau-Studio von Christian Heis (Lali Puna) auf und stand im Vorprogramm von Künstlern wie Joan As Police Woman auf der Bühne. Ihr atmosphärischer Kammerpop ist eingängig, verspielt, aber immer auch eine Spur zu melancholisch, um radiotauglich zu sein. Hier könnte die Erfahrung von Jacob Brass helfen. "Er ist ein toller Songwriter", schwärmt die 29-jährige Lotte Friederich, "er hat super Ideen vom ganzen Song und er weiß, wie man im Song die Spannung bis zum Schluss hält." Sie macht eine kurze Pause. "Und er versteht mich und meine Ideen."

Wohin die gemeinsame Arbeit geht, wissen sie noch nicht. Vielleicht sind die Songs für das Pop-Projekt Loriia, "wir können uns auch vorstellen, für andere zu schreiben", sagt Lotte Friederich. Noch sind sie ganz am Anfang. Aber ein erster Song reicht, um zu wissen: Hier bahnt sich was an. Michael Bremmer

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