Süddeutsche Zeitung

Tanztheater:Liebe, Wut und Zärtlichkeit

Chris Hohenester leitet das Young Pathos Kollektiv in München. Ihre Regie ist ungewöhnlich: Sie lässt die jungen Darsteller sich selbst spielen. Das führt zu erstaunlichen Ergebnissen. Jetzt fahren sie gemeinsam zum Tanztreff der Berliner Festspiele.

Von Martina Scherf, München

Zwei junge Männer tanzen einen Pas de deux. Sie umkreisen einander, jeder auf sich konzentriert, und plötzlich springt der eine dem anderen in die Arme. Sie drehen sich, sie blicken einander in die Augen, sie lösen sich wieder. Eine berührende Szene, voll spielerischer Energie.

"Energie", so lautete der Titel für das erste Stück des Young Pathos Kollektivs nach dem langen Corona-Lockdown in diesem Sommer, eine Collage aus Musik, Tanz, Sprache, Malerei. Es schien Chris Hohenester das passende Motiv. "So viel hatte sich angestaut, ich wollte, dass die Jugendlichen ihren Gefühlen Raum geben können", sagt die Regisseurin. Sie gab keine Struktur vor, erstmal nur dieses Wort: Energie. Und war dann selbst erstaunt, was von den jungen Leuten alles zurückkam: Liebe, Wut und Zärtlichkeit, philosophische Gedanken. Es sprudelte nur so aus ihnen heraus.

"If you want to understand the universe, think in terms of energy, frequency and vibration", das Zitat von Nicola Tesla hat sie inspiriert. Und so ging die Reise vom Universum über die knisternde Spannung beim Blickkontakt in der U-Bahn bis zur Wut, die sich nach einer Polizeikontrolle entlädt. Bei der Premiere im Juni auf dem Gelände des Kreativquartiers an der Dachauerstraße waren die Zuschauer jedenfalls tief berührt.

Nach ein paar Aufführungen im Sommer war Schluss. Doch jetzt treffen sie sich noch einmal, weil "Energie" zum Tanztreffen der Berliner Festspiele eingeladen wurde. An diesem Wochenende fahren sie gemeinsam hin. "Und alle bis auf eine sind dabei, das ist toll", freut sich die Regisseurin. In dieser Lebensphase zwischen Schule, Ausbildung, Ausland oder Studium ist das ja keine Selbstverständlichkeit, dass man sich einfach so im Herbst nochmal eine Woche Zeit freischaufelt.

Chris Hohenester trägt enge Jeans, rote Stiefel und ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Es. Eskaliert. Eh", sie sitzt in ihrem Atelier unweit des Pathos Theaters und zeigt nochmal ein Probenvideo. Zehn junge Leute hatten sich da zusammengefunden, sie machten zuhause Musik, sie tanzten gerne, aber sie hatten keine Bühnenerfahrung. Alles entstand innerhalb weniger Wochen.

Die Aufführung verlegten sie ins Freie, coronasicher. Marie Jaksch half bei Bühne und Kostümen. Als Requisiten dienten Dinge, die im Hof herumstanden: ein Container, ein Rollwagen, ein paar Styroporwürfel, eine alte Straßenlaterne. Die passten perfekt zu dieser Lebensphase,zum Schwebezustand, in dem alles passieren kann, Höhenflüge und Abstürze.

Die Regisseurin gibt nur Impulse und Ideen. Sie schenkt ihren Darstellern Vertrauen, und sie bekommt Vertrauen zurück. "Sie bringen so viel mit", sagt sie. Nachdem sie begonnen hatten, über den Begriff Energie zu brainstormen, fing einer an, wie wild Texte zu schreiben. Einer setzte sich ans Klavier und spielte plötzlich Debussy, "da sagte ich: Wow, das passt ja wunderbar". Eine tanzte wie ein Schmetterling, sie gaben ihr dann große Flügel aus Gaze, mit denen sie hoch oben auf einem Container steht, als würde sie gleich losfliegen.

Die Idee mit dem Pas de Deux fanden die beiden jungen Männer anfangs komisch - sie sind Breakdancer, eher von der sportlichen Truppe. "Die Geschlechterrolle zu überwinden, ist nicht leicht für einen 17-Jährigen", sagt Hohenester. Sie tanzte einzelne Schritte vor, probiert doch mal dies, versucht es mal so. Bewegung fügte sich in Bewegung. Und bald war es überhaupt nicht mehr komisch, sondern stimmig. "Wenn sie erst einmal bereit sind, ihre Komfortzone zu verlassen, dann finden sie immer mehr Ausdrucksmöglichkeiten", sagt Hohenester.

Das gelte auch für sie selbst. "Je länger ich das mache, desto mehr traue ich mich, ohne Vorstellung von einem Ergebnis zu beginnen." Das schafft größtmögliche Freiräume. "So sehe ich die Menschen, wie sie sind, ohne festgelegte Rollen. Sie spielen sich selbst, ganz aus ihrem eigenen Körper heraus."

Hohenester lässt sie oft aus eigenen Erlebnissen schöpfen. Als sie nach einer Probe alle zusammen vor der Tür standen und rauchten, erzählt sie, kam die Polizei: Corona-Regel-Kontrolle. In dem Moment zog einer der Jungs seinen verrutschten Hosenbund hoch, "da musste er sich bis auf die Unterhose ausziehen." Der Einwand der Regisseurin: Wir haben hier nur fürs Theater geprobt, was soll das?, nützte nichts. Solche Kontrollen gehören zu unserem Alltag, sagten die Jugendlichen dann, "und das saugt Energie" - deshalb floss diese Szene ins Stück ein. Abstrahiert, aber laut.

Ein anderer erzählt im Stück, wie er auf der Fahrt zu seiner Tante nach Berlin dreimal kontrolliert wurde - am Busbahnhof in München, an der Raststätte in Nürnberg und auf der Rückfahrt nochmal. "Nur ich und ein anderer Dunkelhäutiger, sonst niemand", referiert er mit aufrechter Haltung und Sarkasmus in der Stimme. Er ist in München geboren, und er hat die meisten Texte des Stückes geschrieben.

Vor zwei Jahren kam ein junger Mann, mit dem Hohenester für die Aufnahme an der Schauspielschule geprobt hatte, bei einem tragischen Unfall ums Leben. "Das war so furchtbar, ich konnte da nicht einfach zum Alltag übergehen", sagt sie. Bei der Beerdigung war die Kirche voller junger Menschen. "Ich hatte das Bedürfnis, unserer Trauer Raum und Zeit zu geben." So entstand ein berührendes Stück über Trauer und Tod - und das Weiterleben: "Mein Herz imitiert den Flügelschlag eines Kolibris". Die Zeile stammt aus dem Text eines der Jugendlichen, die darin mitgewirkt haben.

Hohenester begegnet ihnen auf Augenhöhe. "Ich will ihnen vermitteln: Ihr könnt was, ihr habt was zu sagen. Was ihr denkt, ist wertvoll. Glaubt daran, und verliert das nicht."

Auch wenn sie jetzt schon Anfang 50 ist , kann sie sich an deren Lebensgefühl erinnern. "Ich hatte genau in diesem Alter eine große Krise". Ihre Eltern, erzählt sie, waren damals zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie schmiss die Schule, kiffte zu viel, es drohte der Zusammenbruch. Eine Therapeutin brachte sie zum Tanz, "das hat mein Leben gerettet." Sie begann eine Tanzausbildung, "da musste ich jeden Morgen um neun Uhr an der Ballettstange stehen." Es gab ihr Struktur und Kraft. Dann ging sie nach London, bekam die Hauptrolle in einem Musical, als Schauspielerin, und landete beim Film.

Sie drehte mit Uwe Ochsenknecht oder Heikko Deutschmann, spielte in zahlreichen Kino- und Fernsehproduktionen. In Los Angeles absolvierte sie eine Schauspielausbildung und stand dann auf renommierten deutschen Bühnen. Unter Sönke Wortmann spielte sie am Düsseldorfer Schauspielhaus im Woody-Allen-Stück "Bullets Over Broadway" und am Schauspielhaus Bochum die Marlene Dietrich in der Regie von Matthias Hartmann. Am Wiener Volkstheater trat sie in Faust II auf und am Berner Schauspielhaus in der Dreigroschenoper.

Als ihr zweites Kind geboren wurde und ihr Mann viel beruflich in London zu tun hatte, wurde es immer schwieriger, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. "Als Frau ist deine Zeit als Schauspielerin ohnehin begrenzt. Es gibt ja kaum Rollen für ältere Frauen", sagt sie. So begann sie, Texte zu schreiben, Regie zu führen, sie leitete Projekte am Jugendtheater des Residenztheaters, an den Kammerspielen, in der Schauburg.

Seit zwei Jahren leitet sie das Young Pathos Kollektiv. Ein festes Budget gibt es nicht, sie muss für jede Produktion erstmal Geld auftreiben. Sie ist ihre eigene Produktionsleiterin, Casterin, Bürokraft, Managerin. Immerhin - der Erfolg bestätigt sie, deshalb wird sie auch vom Kulturreferat der Stadt München oder dem deutschlandweiten Fonds der darstellenden Künste gefördert.

Dass sie jetzt zum fünften Mal zu den Berliner Festspielen eingeladen ist, ist eine große Anerkennung ihrer Arbeit. Jetzt muss Hohenester erstmal sehen, wie sie die Requisiten nach Berlin bringt. Der Container fährt nicht mit, aber alles andere muss irgendwie in den gemieteten Sprinter passen. "Kriegen wir hin", sagt sie und lacht.

Eines will sie noch loswerden: Dass sie Machtsysteme ablehnt, wo auch immer. Sie will von den jungen Menschen lernen, anstatt sie zu bevormunden - "oder sie für die eigenen Vorstellungen zu instrumentalisieren."

Für den Pas de Deux von Gustav und Rocco hatte sie zuerst eine Musik ausgesucht, die sie selbst liebt - die gefiel den beiden aber gar nicht. "Ich sagte: ,Dann macht mir einen Gegenvorschlag.' Am nächsten Tag kam Gustav mit dieser wunderbaren Jazznummer an, und der Tanz wurde dadurch viel besser, als er mit meiner Musik jemals hätte werden können."

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