Kriegskind mit ADHS - der alte Fluch meines Lebens erweist sich im Nachhinein als segensreich. Die immer neuen Einfälle, die mein "Zappelphilipp" unaufhörlich gebiert und die manchmal recht störend sein können, haben jüngst etwas sehr Praktisches geboren: Weil alle meine Veranstaltungen durch den Lockdown flöten gegangen sind, musste ich mir etwas Neues einfallen lassen. Digitale Schreib-Seminare - das geht recht gut. Aber irgendetwas Neues, Kreatives, Originelles fehlte noch.
Da wurde ich bei meinen Nachkommen fündig. Tagebuch schreiben im Internet - das war mir bereits vertraut, einige Jahre lang habe ich einen "Labyrinth-Blog" gepflegt. Das war mir irgendwann zu monothematisch. Mein eigener neuer Blog soll nun Anregungen und Tipps dazu geben und als Modell dienen. Hier darf ich einen großen Dank an die übernächste Generation der "Digital Natives" übermitteln: Einer meiner Enkel (13) hat dem Großvater (81) mit viel Geduld geholfen, nach dem Vorbild seines Blogs ( leichtrezeptefinden.wordpress.com) meinen eigenen zu basteln: www.hyperwriting.de.
Auch sonst hat sich als Antwort auf die Pandemie viel getan. Bei allem Frust entstand ungeahnt Neues. Das Wichtigste war ein Lehrauftrag für zwei Kurse "Kreatives Schreiben", die ich im Herbst durchgeführt habe - mit 29 Studierenden der Berufsbegleitenden Akademie Breitenbrunn in Sachsen. Anschluss im Herbst ist schon in Arbeit. Was für eine Freude, mit Zwanzigjährigen zu arbeiten! Die Technik hat manchmal gestottert - aber im Großen und Ganzen lief das erstaunlich gut über die digitale Bühne.
Videokonferenzen werden ja gerne als "gemütsarm und wenig empathisch" gescholten. Dem kann man abhelfen: Ich empfehle den Teilnehmerinnen zu Beginn meiner Webinare, eine Kerze anzuzünden und sich vorzustellen, dass wir nun alle um ein "virtuelles Lagerfeuer" sitzen und uns schreibend Geschichten erzählen, wie schon unsere Vorfahren in der Steinzeit. Gemüt und Empathie sind ohnehin etwas, das vor allem im eigenen Kopf entsteht; man kann es aber durch solche Hilfsmittel fördern. Ich nütze auch intensiv den Chat für die Vorstellungsrunde, die Kurzfassungen der entstandenen und teils auch vorgelesenen Texte, für Fragen und Mini-Lektionen. Zum Schluss hat man mit dem Inhalt des Chat gleich auch noch ein detailliertes Protokoll des Seminars. Sehr praktisch.
Als ich 1979 das erste Seminar "Schreiben als Abenteuer" mit meiner Kollegin Elisabeth von Godin durchführte - vermutlich das erste Schreib-Seminar dieser Art im deutschsprachigen Raum -, da hätte ich mir niemals träumen lassen, dass ich dies später in digitaler Form durchführen würde. Im selben Jahr habe ich übrigens vermutlich als Erster das Zauberwort der Pandemie verwendet, in meinem Buch "Singles - Alleinsein als Chance": die Entschleunigung.
Noch etwas zu den "Mutanten" im Titel: In den Fünfzigerjahren waren sie dank Hiroshima und dem radioaktiven Fallout ein zentrales Thema der Science-Fiction-Literatur - "Mutant" von Henry Kuttner erschien 1953. Das Urmodell der Mutantenromane, "Odd John" von Olaf Stapledon, stammt sogar von 1935. Die Mutanten von heute aus England und Brasilien erzählen ganz andere Geschichten. Ich habe mein Leben lang gerne Science-Fiction gelesen und geschrieben - nun erlebe ich vieles davon in dieser apokalyptischen Realität und denke manchmal: Wann geht das Licht wieder aus und ich verlasse diesen Film. Aber das ist kein Kino. Das ist die Realität - und ich nutze sie mit großem Vergnügen. Der Bildschirm gibt eine völlig neue Dimension hinzu und ich hoffe, dass uns das nie wieder verlassen wird. Auf das Virus allerdings kann ich gerne verzichten.
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