Gedenk-Aktion:Erinnerung mit weißen Fahnen an zentralen Tag in der Geschichte Münchens

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"Jeder ist selbst dafür verantwortlich, die Freiheit mit Sinn und Leben zu füllen": Wolfram Kastner (li.) und Michael Wladarsch. (Foto: Catherina Hess)

Zum 75. Jahrestag der Befreiung Münchens von den Nationalsozialisten werden in der Stadt weiße Fahnen gehisst. Auch die Bürger sollen mitmachen.

Von Bernd Kastner

München wird voller weißer Fahnen sein. Am Donnerstag kommender Woche werden sie an vielen Orten der Stadt wehen, auf dem Marienplatz ebenso wie vor der Staatskanzlei, an der Technischen Universität etwa und am Haus des Sparkassenverbands. Sie erinnern an den 30. April 1945. An diesem Tag sind die Amerikaner einmarschiert, die Rainbow Division hat München eingenommen und die Herrschaft der Nationalsozialisten beendet. "Tag der Befreiung - 30. April 1945" wird auf den weißen Fahnen stehen, die zum 75. Jahrestag gehisst werden.

Es ist eine Initiative des Künstlers Wolfram Kastner und des Grafikdesigners Michael Wladarsch, die großen Anklang findet, bei städtischen wie staatlichen Institutionen. Oberbürgermeister Dieter Reiter hat die Schirmherrschaft übernommen, das Kulturreferat fördert die Aktion finanziell. Es dürfte angesichts der Corona-Beschränkungen die einzige öffentliche Erinnerung sein an einen Tag, der so zentral ist in der Geschichte Münchens, und doch in all den Jahren seit dem Krieg eher wenig beachtet wurde. Das soll sich ändern: Unter anderem beteiligen sich auch das Haus der Kunst und das Stadtmuseum, die Musikhochschule, die Stiftung bayerischer Gedenkstätten, die Israelitische Kultusgemeinde und die Erlöserkirche, der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Volkshochschule. Ergänzend rufen Kastner und Wladarsch alle Bürger auf, weiße Fahnen oder Tücher aus ihren Fenstern zu hängen.

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Eine weiße Fahne, das Symbol der Kapitulation, ist für Kastner zudem ein "Zeichen für Frieden, Freiheit und gegen den Krieg". Natürlich, sagt er, längst nicht alle Münchner hätten sich 1945 befreit gefühlt, für Nazis und Mitläufer sei der Sieg der Alliierten eine Niederlage gewesen. Andere aber hätten den 30. April als Befreiung erlebt, vor allem die Menschen in den Konzentrationslagern. Nur wenige weiße Fahnen waren in München in den letzten Kriegstagen zu sehen. Wer sie ins Fenster hängte, brachte sich selbst in Gefahr, sagt Kastner, weil die Nazis auch im Untergang noch Menschen, die sich von ihnen abwandten, bestraften oder gar ermordeten. Es seid doch gar keine Frage, sagt Kastner, dass die Bundesrepublik in der Tradition derer stehe, die die Niederlage des Hitler-Regimes als Befreiung empfanden und empfinden. Erst nach dem Ende der Naziherrschaft sei der Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat möglich gewesen.

Michael Wladarsch, 58, betreibt in Schwabing das Grafikdesignbüro 84 GHz, das etwa durch "Kunst im Karrée" bekannt geworden ist. Wolfram Kastner, 73, wiederum hinterfragt seit Jahrzehnten kritisch den Umgang mit der NS-Zeit. Mit provokanten politischen Kunst-Aktionen tritt er immer wieder den Verantwortlichen in Stadt und Freistaat, egal zu welcher Partei sie gehören, auf die Zehen und kritisiert unsensiblen Umgang mit der Geschichte. Es dauerte mehrere Wochen, ehe die Stadt auf die Fahnen-Initiative positiv reagierte. OB Reiter unterstützt die Aktion ausdrücklich, wie er an die Initiatoren schreibt: "Wenn sich zahlreiche Institutionen an der Beflaggung beteiligen, indem sie ihre Fahnenmasten zur Verfügung stellen, können wir damit die historischen Ereignisse zurück in das kollektive Gedächtnis bringen."

Ergänzend zu den Fahnen bitten Wladarsch und Kastner die Münchner darum, private Fotos vom Kriegsende einzusenden. Sie wollen daraus die virtuelle Ausstellung "Tag der Befreiung" machen. Die Ausstellungsseite www.tagderbefreiung.online bietet die Möglichkeit, Fotos hochzuladen. Die alten Aufnahmen können auch per E-Mail geschickt werden an: freiheit@84ghz.de.

Kastner sieht die Aktion zum 75. Jahrestag auch als Zeichen gegen den aktuellen Rechtsextremismus und Antisemitismus. Deshalb sei es wichtig, dass trotz der Corona-Beschränkungen die Erinnerung an die Befreiung vom NS-Terror nicht vergessen werde: "Nichtstun wäre ein falsches Signal." Wladarsch erinnert daran, dass jeder einzelne etwas tun müsse für vermeintlich selbstverständliche Errungenschaften: "Jeder ist selbst dafür verantwortlich, die Freiheit mit Sinn und Leben zu füllen." Mit Frieden und Freiheit verhalte es sich wie mit Gesundheit: Man merke erst, wenn man sie nicht mehr habe, wie wichtig sie sind.

© SZ vom 25.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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