Süddeutsche Zeitung

Geflüchtete im Libanon:"Die Versorgungslage im Land ist katastrophal"

Jacqueline Flory vom Verein "Zeltschule" reist seit Jahren nach Syrien und in den Libanon, um Kindern in Flüchtlingscamps Unterricht zu ermöglichen. Sie erzählt von Orten, an denen es kaum Hoffnung gibt.

Interview von Thomas Anlauf

Jacqueline Flory hilft dort, wo es kaum Hoffnung auf Hilfe gibt. Seit sechs Jahren reist die Münchnerin, die hier den Verein "Zeltschule" gegründet hat, nach Syrien und in den Libanon, um dort für Geflüchtete Schulen zu bauen und zu betreiben. Gerade ist die Dolmetscherin wieder einmal aus dem Libanon zurückgekommen.

SZ: Frau Flory, die halbe Welt ist im Lockdown und die meisten Menschen denken seit Monaten nur noch daran, wann ist dieser Albtraum endlich vorbei. Sie aber sind in die Krisengebiete im libanesisch-syrischen Grenzgebiet gereist, um Kindern Unterricht in Flüchtlingscamps zu ermöglichen. Was haben Sie dort erlebt?

Jacqueline Flory: Die Versorgungslage im Land ist katastrophal. Viele alltägliche Dinge, die die Menschen brauchen, gibt es gar nicht mehr zu kaufen. Libanon importiert 80 Prozent seiner Waren. Seit der Explosion im Hafen von Beirut im vergangenen August funktioniert der internationale Warenhandel nicht mehr.

Wie können Sie dann den Kindern und ihren Familien dort helfen?

Wegen Corona sind die Schulen dort gerade wieder geschlossen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir die Camps besuchen durften. Die Menschen dort haben Angst, dass ein weiterer Lockdown bedeutet, dass die Schulen gar nicht mehr öffnen. Ich habe ganz viele Kinder getroffen, die mich ansprechen und fragen: Weißt du, wann die Schule wieder öffnet? Aber wir werden wieder öffnen, sobald es möglich ist. Jetzt haben wir vor allem Feuerholz und Lebensmittel verteilt. Und ich habe mehr als dreitausend libanesische SIM-Karten gekauft, damit die Kinder wenigstens eine Art Distanzunterricht erhalten können.

Tausende Kinder aus Syrien sitzen oft schon seit Jahren in den Camps, sie kennen nur Armut und Kälte. Was sehen Sie, wenn Sie die Lager besuchen?

Die Kinder sitzen im Winter in sehr kalten Zelten, es gibt nichts zu tun, wenn keine Schule ist. Da wird ein Tag schon sehr lang. So schicken die Lehrer aber täglich per Whatsapp Tutorials und legen gleichzeitig Arbeitsblätter vor die Zelte, die die Kinder dann ausfüllen können. Am Abend sammeln sie die Blätter wieder ein.

Wie muss man sich die Camps vorstellen?

Wir haben 15 Camps, die von uns komplett versorgt werden. In der Bekaa-Ebene gibt es etwa 2000 wilde Camps mit Geflüchteten. Manche bestehen aus dreißig Zelten, andere aus dreihundert bis vierhundert. Unser kleinstes Camp hat knapp sechzig Zelte, das größte vierhundertfünfzig. Manche liegen in der Ebene, andere grenzen unmittelbar an Siedlungen. Bislang haben wir in den Camps kaum Menschen, die an Corona erkrankt sind. Trotzdem ist die Angst groß. Als wir dort waren, kamen von der EU 250 000 Impfdosen für den Libanon an. Damit sollten die über 80-Jährigen geimpft werden. Dann hat man festgestellt: Es gibt kaum Leute über 80.

Können Sie sich im Libanon überhaupt frei bewegen? Wie lief es mit der Einreise?

Für ein paar Tage ging das ganz gut. Ich war mit meinem Sohn da, er hatte schulfrei. Man braucht einen Test hier in Deutschland vor dem Flug, dann einen bei der Einreise im Libanon, später wieder einen kurz vor der Ausreise aus Beirut und einen nach der Rückkehr nach Deutschland. Es gab zwar einen Lockdown, aber nicht mehr mit Ausgangssperre. Das hätte sonst ein Problem gegeben.

Haben Sie denn als Münchner Hilfsorganisation dort auch Privilegien?

Ja, es gibt schon Ausnahmeregelungen für Hilfsorganisationen, damit wir uns frei bewegen dürfen. Wir helfen auch dem libanesischen Volk, haben zum Beispiel auch Defibrillatoren für die Bevölkerung mitgebracht. Vor Ort arbeiten wir ja mit libanesischen Händlern zusammen, um Waren für die Camps zu bekommen. Doch es wird immer schwieriger, die enormen Mengen Woche für Woche zu beschaffen. Ein Händler hat mir gesagt, dass er im April überhaupt nicht mehr regulär öffnen wird, weil ich ohnehin alle Waren aufkaufen würde.

Das sehen bestimmt nicht alle Libanesen so gerne, dass Sie für syrische Flüchtlinge in großen Mengen einkaufen.

Die Grundstimmung ist tatsächlich, dass man die Syrer lieber wieder raushaben will. Dabei kommen derzeit ohnehin relativ wenige Menschen aus Syrien. Die Leute wissen ja, dass die Situation im Libanon immer schlimmer wird.

Trotzdem können Sie den Menschen in den Camps oft eine Freude machen.

Wir haben jetzt mehrere tausend Eier zu einem sehr günstigen Preis bekommen. Seit Jahren haben wir versucht, Eier heil in die Camps zu bringen. Aber die Straßen sind katastrophal. Jetzt sind wir im Konvoi gefahren und haben die tiefen Schlaglöcher vorher mit Schotter aufgefüllt. Und die Eier kamen ganz an.

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Quelle:
SZ vom 09.03.2021/sbeh
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