Süddeutsche Zeitung

München:Im Schmerz nicht allein

Lesezeit: 3 Min.

Die Nicolaidis-Young-Wings-Stiftung unterstützt Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die einen geliebten Menschen verloren haben. Nun baut sich die Organisation eine neue Zentrale - das Sternenhaus

Von Patrik Stäbler

Die Frau ist 29 Jahre alt, vor sechs Wochen erstmals Mutter geworden und steht mitten im Leben - als selbiges durch einen Anruf aus den Angeln gehoben wird. Ihr Mann, heißt es am Telefon, ist bei einem Autounfall in Griechenland tödlich verunglückt. "Mich hat es damals mit voller Wucht aus dem Leben katapultiert", sagt die Frau heute, mehr als ein Vierteljahrhundert später. "Ich habe mir nicht vorstellen können, dass der Schmerz jemals aufhört."

Die Frau leidet - und fühlt sich als junge Witwe mit ihrem Schicksal allein. "Ich habe mir gedacht, so was gibt's doch eigentlich nicht", erzählt sie. "Ich habe mich gefühlt wie ein Sonderling." Doch das ist eine grobe Fehleinschätzung: Zählt man auch Menschen hinzu, die unverheiratet in einer Partnerschaft gelebt haben, dann gibt es in Deutschland circa 500 000 Witwen und Witwer unter 50 Jahren. Und sie brauchen nach dem meist plötzlichen Tod ihres Partners oft spezielle Hilfe - nicht nur, um mit der Trauer umzugehen, sondern auch in praktischen Dingen wie dem Beantragen einer Witwenrente. Allein Beratungsangebote sind in diesem Bereich rar. Die deutschlandweit größte Hilfsorganisation für junge Trauernde ist die "Nicolaidis-Young-Wings-Stiftung" in München, die nicht nur Witwen und Witwer unterstützt, sondern auch Kinder und Jugendliche, die ein Elternteil verloren haben. Deren Zahl wird hierzulande auf circa 800 000 geschätzt. Vorsitzende und Gründerin der Stiftung ist Martina Münch-Nicolaidis - jene Frau, die 1997 ihren Mann bei einem Autounfall verlor.

Stattet man der 52-Jährigen heute einen Besuch in den Räumen der Stiftung unweit der Theresienwiese ab, dann trifft man dort auf eine sanfte und doch zielstrebige Person, die im Gespräch fröhlich wirkt und viel lacht - besonders, wenn es um das Sternenhaus geht. Hinter diesem Namen verbirgt sich die neue Heimat ihrer "Nicolaidis-Young-Wings-Stiftung", die auf dem früheren Gelände der Paulaner-Brauerei entstehen soll. Den zugehörigen Bauantrag hat das Rathaus gerade abgesegnet; die Fertigstellung ist für Anfang 2023 geplant. "Das wird ein Highlight für München", ist Martina Münch-Nicolaidis überzeugt. Auf fünf Etagen - samt der verglasten Dachterrasse, dem sogenannten Sternengarten - werde ein "Wir-Haus" entstehen, schwärmt sie. Ein zentraler Ort, der jungen Trauernden an 365 Tagen im Jahr offen steht. Für die Selbsthilfegruppen, Beratungsangebote, Seminare und Veranstaltungen werden 1250 Quadratmeter Fläche zur Verfügung stehen - mehr als viermal so viel wie derzeit. Schon seit 18 Jahren träume sie von einer eigenen Heimat für ihre Stiftung, sagt Münch-Nicolaidis. "Ich bin mir sicher: Wenn ich das Haus das erste Mal betrete, werde ich weinen müssen."

Nach dem Tod ihres Mannes hatte die Münchnerin eine Selbsthilfegruppe gesucht, "weil ich mich mit anderen Menschen austauschen wollte, denen es wie mir ergangen ist". Doch alle Trauertreffs, die sie findet, richten sich an ältere Menschen. "Schmerz ist Schmerz - da spielt das Alter keine Rolle", sagt Martina Münch-Nicolaidis. "Aber junge Menschen sind in einer ganz anderen Lebenssituation. Man hat Träume, will oder hat kleine Kinder, baut sich gerade etwas auf - und dann fällt alles auf einen Schlag zusammen." Nachdem ihre Suche erfolglos bleibt, gründet sie kurzerhand selbst einen Trauertreff für junge Witwen und Witwer, der anfangs in einer Kirche in Solln unterkommt. "Als ich dem Pfarrer von meinem Plan erzählt habe, hat er gemeint: Ich gebe Ihnen acht Wochen", sagt Martina Münch-Nicolaidis und lächelt. Doch binnen kürzester Zeit ist die Gruppe restlos voll. Und spätestens, als sich nach einem Zeitungsbericht 50 Betroffene bei ihr melden, wird ihr die Diskrepanz zwischen dem großen Bedarf und dem kargen Angebot bewusst, wenn es um Hilfen für junge Trauernde geht.

Sie selbst findet damals ihre "Lebensaufgabe", so sagt sie das - ein großes Wort, das in diesem Fall aber passt. Schon 1998 gründen Münch-Nicolaidis und ihre Mitstreiterin Martina Willer-Schrader einen Verein, der später zur Stiftung wird. Das Angebot wird in der Folge peu à peu erweitert: Neben Selbsthilfegruppen für junge Witwen und Witwer sowie Waisen und Halbwaisen gibt es heute Einzel-, Telefon- und Onlineberatung, Trauerseminare, Infoabende, Ausflüge, Schreibwerkstätten und, und, und. Zum Stiftungsteam gehören 20 Fachkräfte sowie 80 Ehrenamtliche - und der Fußballer Thomas Müller als prominenter Botschafter.

Für die jungen Trauernden sind sämtliche Angebote kostenlos, weshalb die Stiftung auf Spenden angewiesen ist - so auch beim Sternenhaus, dessen Baukosten auf 6,5 Millionen Euro geschätzt werden. "Etwa zwei Drittel haben wir zusammen", sagt Martina Münch-Nicolaidis. "Für den Rest suchen wir noch Spender."

Dass man mit dem Sternenhaus und dessen Finanzierung überhaupt schon so weit ist, das sei vor allem auch einer Person zu verdanken, betont die Stiftungschefin - nämlich einer Frau, "die ebenfalls die Erfahrung gemacht hat, ihren Partner zu verlieren". Gemeint ist Alexandra Schörghuber, die seit dem Tod ihres Mannes Stefan Schörghuber 2008 die Schörghuber-Gruppe leitet. Zu ihr gehört die Bayerische Hausbau, die auf dem früheren Paulaner-Gelände im großen Stil baut.

Und genau dort, an der Kreuzung von Weiler- und Regerstraße, wird nun das Sternenhaus entstehen, nachdem die neu gegründete Stefan-Schörghuber-Stiftung das Grundstück dafür zur Verfügung gestellt hat. Das Gebäude soll "ein Ort der Zuversicht" werden, "an dem junge Trauernde auf Verständnis treffen", sagt Martina Münch-Nicolaidis. "Außerdem soll es helfen, ein Thema sichtbarer zu machen, das in unserer Gesellschaft noch nicht so sichtbar ist, wie es sein sollte."

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Quelle:
SZ vom 19.09.2020
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